Dienstag, 18. April 2017

Beim Wein

Er sah, sein Blick gab mir Schönheit,
und ich empfing sie als die meine.
Glücklich, verschlang ich einen Stern.

Ich ließ es geschehen, daß er mich ausdachte
zum Ebenbild der Spiegelung
in seinen Augen. So tanze ich, tanze 
in dem Geflatter plötzlicher Flügel.
Tisch ist Tisch, Wein ist Wein
im Glas, das ein Glas ist
und stehend auf dem Tisch steht.
Aber ich bin imaginär,
unglaublich imaginär,
imaginär bis ins Blut.

Ich erzähl ihm, was er will: von Ameisen
die an der Liebe sterben
unter dem Sternbild der Pusteblume.
Ich schwöre, daß weiße Rosen,
mit Wein besprengt, singen.

Ich lache, neige den Kopf
behutsam, als überprüfte ich 
eine Erfindung. Ich tanze, tanze
in der staunenden Haut, in der Umarmung,
die mich erschafft.

Eva aus Rippe, Venus aus Schaum,
Minerva aus Jovis' Haupt
waren wirklicher.

Blickt er an mir vorbei, 
such ich mein Spiegelbild 
an der Wand. Dort seh ich nur
einen Nagel, kein Bild.

Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt


Per M.: Sì, sì, è vero... E lo sapevamo. Nondimeno grazie. L.