... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Montag, 9. Mai 2011

Ta danse

Peenemünde, le 3 avril 2011

Mitten im tiefsten Winter habe ich schließlich erfahren,
dass in mir ein unauslöschlicher Sommer ist.

Albert Camus

Primzahlen sind nur durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar und dachte manchmal, dass sie irrtümlich in dieser Folge, aufgereiht wie Perlen einer Halskette, gelandet waren. Andere Male dachte er, dass sie vielleicht gern wie alle anderen gewesen wären, einfach beliebige Zahlen, was ihnen aus welchen Gründen auch immer aber nicht gelang. Dieser zweite Gedanke kam ihm aber vor allem abends, in dem chaotischen Geflecht von Bildern, die dem Schlaf vorausgehen, wenn das Hirn zu müde ist, um sich noch selbst zu belügen.
In einem Seminar im zweiten Semester hatte Mattia gelernt, dass einige Primzahlen noch einmal spezieller als die anderen sind. Primzahlenzwillinge werden sie von Mathematikern genannt. Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindeet sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren. Zahlen wie 11 und 13, wie 17 und 19 oder 41 und 43. Bringt man die Geduld auf, weiter und weiter zu zählen, stellt man fest, dass solche Pärchen immer seltener werden. Man stößt auf immer weniger Primzahlen, die verloren dastehen in diesem lautlosen, monotonen, nur aus Ziffern bestehenden Raum, und es beschleicht einen das beklemmende Gefühl, dass die Pärchen, die einem bis dahin begegnet sind, rein zufällig zusammenstanden und dass es eigentlich ihr Schicksal ist, allein zu bleiben. Aber dann, wenn man schon aufgeben und nicht mehr weiterzählen will, stößt man auf ein weiteres Pärchen von Zwillingen, die sich, eng umschlungen, aneinander festhalten. Mathematiker sind davon überzeugt, dass man, egal wie weit man fortschreitet, immer wieder solchen Zwillingen begegnen wird, obwohl niemand sagen kann, wo sie stecken, bis man sie tatsächlich gefunden hat.
Für Mattia waren sie beide, Alice und er, genau dies, Primzahlenzwillinge, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um sich wirklich berühren zu können. Er hatte ihr diesen Gedanken noch niemals anvertraut, und wenn er sich vorstellte, wie er ihr davon erzählte, verdampfte die dünne Schweißschicht auf seinen Händen vollends, sodass er zehn Minuten keine Gegenstände mehr berühren konnte.
...
Zu Hause entnahm er seinem Ringbuch einen Stapel Blätter, dick genug, dass der Stift sanft darübergleiten konnte und nicht über die harte Tischplatte kratzte. Er schob die Kanten exakt zusammen, zunächst oben und unten, dann die Seiten. Von den Federhaltern auf dem Schreibtisch wählte er sich den aus, der noch am besten gefüllt war, schraubte die Kappe an und steckte sie auf das hintere Ende, damit sie nicht verloren ging. Dann schrieb er genau in die Mitte des obersten Blattes, ohne dass er dazu die Kästchen zählen musste:

2 760 889 966 649. Er schraubte die Kappe wieder auf und legte den Federhalter seitlich neben das Papier. Zweitausendsiebenhundertsechzigmilliardenachthundertneunundachtzig-millionenneunhundertsechsundsechzigtausendsechshundertneunundvierzig, las er mit lauter Stimme. Dann noch einmal, aber leiser, so als wolle er sich diesen Zungenbrecher einprägen. Dies sollte seine Zahl sein, beschloss er.
...
Nach kurzem Zögern hielt er den Füller zwei Zeilen darunter und schrieb: 2 760 889 966 651.
Das ist ihre, dachte er. In seinem Kopf nahmen die Ziffern die bläuliche Farbe von Alices Fuß im flackernden Lichtschein des Fernsehapparates an.
Das können Primzahlzwillinge sein, dachte Mattia. Wenn das stimmt...
Schlagartig verharrte er bei diesem Gedanken und begann nach Teilern der beiden Zahlen zu suchen. Mit der 3 war es leicht: Man brauchte nur die Quersumme zu bilden, und schon sah man, ob sie ein Vielfaches von 3 war. Die 5 schied von vorneherein aus. Vielleicht gab es auch für die 7 eine Regel, aber Mattia erinnerte sich nicht mehr so genau und machte sich daran, schriftlich zu teilen. Das Gleiche, in immer komplizierteren Rechnungen, mit der 11, der 13 und so fort. Während er die 37 ausprobierte, nickte er zum ersten Mal ein, und der Stift glitt aus seiner Hand aufs Papier. Bei 47 gab er auf. Die Spannung in seinem Magen hatte sich aufgelöst, war in die Muskeln abgeflossen, so wie sich Gerüche in der Luft verflüchtigen, und er spürte nichts mehr davon. In dem Raum gab es nichts anderes mehr als ihn selbst und eine Reihe herumliegender Blätter, die mit sinnlosen Teilungen beschrieben waren. Die Uhr zeigte auf Viertel nach drei am frühen Morgen.

Mattia nahm noch einmal das erste Blatt zur Hand, auf dem in der Mitte die beiden Zahlen standen, und kam sich wie ein Idiot vor. Er riss es mittendurch, und dann noch einmal, bis die Kanten scharf genug waren, um sie wie eine Klinge unter dem Fingernagel seines linken Ringfingers hindurchzuführen.


Die Einsamkeit der Primzahlen, Paolo Giordano, 2011



http://www.youtube.com/watch?v=G1vmBYalPP4

http://www.youtube.com/watch?v=TEZdx7geOQY&feature=related