... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Sonntag, 15. Mai 2011

Ta fuite



Einige Sekunden lang schwiegen sie, als müssten sie über das unerhörte Ereignis nachdenken. Dann brach Alice in Gelächter aus. Mattia brannten die Augen, und seine geschwollenen Adern am Hals zuckten und pulsierten heftig.
"Hast du dir wehgetan?", fragte Alice, immer noch lachend.
Mattia war wie gelähmt und antwortete nicht. Sie bemühte sich, wieder ernst zu werden.
"Lass mal sehen", sagte sie.
Sie löste den Sicherheitsgurt und beugte sich zu ihm vor, während er weiter die Wand anstarrte. Er dachte an das Wort unelastisch. Und daran, welches Maß an kinetischer Energie, die jetzt seine Beine zittern ließ, bei einem Aufprall freigesetzt worden wäre.
Endlich nahm er den Fuß von der Bremse, und ihr Wagen mit dem abgewürgten Motor rollte ein wenig auf der kaum merklich abfallenden Straße zurück. Alice zog die Handbremse.
"Da ist nichts", sagte sie, indem sie Mattia über die Stirn strich.
Er schloss die Augen und nickte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
"Jetzt fahren wir erst mal nach Hause, und da legst du dich hin", sagte Alice. Als hätten sie je ein gemeinsames Zuhause gehabt.
"Ich muss zu meinen Eltern", wandte Mattia mit wenig Nachdruck ein.
"Da fahr ich dich später hin. Jetzt musst du dich erst ausruhen."
"Ich muss..."
"Sei ruhig."
Sie stiegen aus und tauschten die Plätze. Die Dunkelheit hatte den Himmel vollständig erobert, bis auf einen schmalen Streifen längs des Horizonts.
Die ganze Fahrt über wechselten sie kein Wort mehr miteinander. Mattia hatte die rechte Hand vor die Augen gelegt, während Mittelfinger und Daumen die Schläfen zusammenpressten. Wieder und wieder las er die Warnung am Spiegel. Objects in the mirror are close than they appear.
...
Hin und wieder wandte Alice den Blick von der Straße ab und sah ihn besorgt an. Sie bemühte sich, behutsam zu fahren. Kurz überlegte sie, ob sie nicht vielleicht Musik anstellen sollte, wusste aber nciht, was er gern hören würde. Im Grunde wusste sie nichts mehr von ihm.
Vor dem Haus machte sie Anstalten, ihm aus dem Wagen zu helfen, aber er schüttelte den Kopf und stieg allein aus. Während sie schon die Haustür öffnete, stand er ein wenig wankend hinter ihr. Alles, was sie tat, geschah flink und aufmerksam. Sie fühlte sich verantwortlich, als wäre das alles die unerwartete Folge eines dummen Streiches.
Drinnen im Wohnzimmer warf sie ein paar Kissen zu Boden, um ihm auf dem Sofa Platz zu machen.
"Leg dich hier hin", forderte sie ihn auf, und er gehorchte.
Sie ging in die Küche, um ihm einen Kamillentee oder schwarzen Tee zu machen oder sonst etwas, das sie in der Hand halten konnte, wenn sie ins Wohnzimmer zurückkam.
Während sie wartete, dass das Wasser kochte, räumte sie hektisch auf. HIn und wieder wandte sie den Kopf, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, konnte aber nur das eintönig strahlende Blau der Rückenlehne erkennen.
Gleich würde Mattia fragen, warum sie ihm geschrieben hatte, und dann konnte sie ihm nicht mehr ausweichen. Nur wusste sie es jetzt selbst nicht mehr so genau. Ihr war eine jüngere Frau aufgefallen, die ihm ähnelte. Ja, und? Auf der Welt wimmelte es von Leuten, die sich ähnlich sahen, gab es ständig eigenartige, bedeutungslose Zufälle. Sie hatte doch mit jener Frau noch nicht einmal ein einziges Wort gewechselt. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, während Mattia drüben im anderen Zimmer lag, kam ihr das alles absurd und grausam vor.
Fest stand nur, dass er zurückgekehrt war und dass sie sich wünschte, er würde nicht mehr fortgehen.
Sie spülte noch einmal die eigentlich sauberen, im Waschbecken gestapelten Teller und nahm den mit Wasser gefüllten Topf vom Herd. Seit Wochen klebte eine Handvoll Reis auf dem Boden fest. Durch das Wasser betrachtet, sahen die Reiskörner größer aus. Sie leerte den Topf, nahm eine Tasse von der Ablage, füllte sie mit kochendem Wasser und tauchte einen Teebeutel hinein, der es sofort dunkel färbte. Dann gab sie noch zwei gehäufte Löffel Zucker hinzu und kehrte zu Mattia zurück.
Seine Hand war von den geschlossenen Augen zum Hals hinuntergeglitten. Die Gesichtshaut hatte sich entspannt, und seine Miene wirkte gleichmütig. In regelmäßigen Abständen hob und senkte sich sein Brustkorb.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, stellte Alice die Tasse auf die Glasplatte des Couchtischchens und nahm auf dem Sessel daneben Platz. Außer Mattias Atemzügen war nichts zu hören.
Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf nun endlich wieder klarer wurde, sich ihre Gedanken gemächlicher bewegten, nachdem sie eine Zeitlang wie wahnsinnig gerast waren, hin zu einem unbestimmten Ziel, und sie fand sich in hrem eigenen Wohnzimmer wieder, als wäre sie aus einer anderen Dimension hereingeplatzt.
...
Sie spürte, dass sich jetzt etwas klärte, wie eine Erfüllung nach langem Warten, spürte es in allen Gliedern, sogar in ihrem lahmen Bein, das doch sonst von nichts etwas mitbekam.
Es war ganz natürlich, jetzt aufzustehen, Sie fragte sich noch nicht einmal, ob es richtig war oder nicht, ob sie tatsächlich ein Recht dazu besaß. Es geschah nicht mehr, als dass Zeit verrann und neue Zeit nach sich zog. Es war etwas Naheliegendes, das von einer Zukunft oder der Vergangenheit ganz unberührt war.
So beugte sie sich über Mattia und küsste ihn auf die Lippen. Ohne Angst, ihn zu wecken, küsste sie ihn, wie man einen wachen Mund küsst, ließ ihre Lippen auf den seinen ruhen, wie um dort ein Zeichen zu hinterlassen. Er zuckte zusammen, schlug die Augen aber nicht auf. Nur seine Lippen öffneten sich halb und erwiderten ihrem Kuss. Er war wach.
Es war anders als beim ersten Mal. Ihre Gesichtsmuskeln waren nun kräftiger, wissender, bemühten sich um eine Aggressivität, die mit ihren Rollen zu tun hatte, als Mann und Frau. Über ihn gebeugt verharrte Alice, nur ihre Lippen, ihre Zunge bewegten sich. Ihren übrigen Körper schien sie vergessen zu haben.
Der Kuss dauerte einige Minuten, so lange, dass die Realität einen Spalt zwischen ihren aufeinandergepressten Mündern finden konnte, um sich dazwischen zu drängen und beide zu zwingen, sich bewusst zu machen, was da gerade geschah.
Sie lösten sich voneinander. Während Mattia lächelte, rasch, automatisch, betastete Alice ihre feuchten Lippen, wie um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich geschehen war.
Jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen, und zwar, ohne dass sie darüber sprachen. Abwechselnd schauten sie sich an, doch die Übereinstimmung war bereits verloren gegangen, und ihre Blicke trafen sich nicht.
Unsicher stand Mattia auf. "Ich geh mal einen Moment...", sagte er, indem er in den Flur deutete.
"Klar. Die letzte Tür."
Er hatte seine Schuhe noch an, und das Geräusch seiner Schritte schien in den Boden einzudringen.

Die Einsamkeit der Primzahlen Paolo Giordano, 2008


http://www.youtube.com/watch?v=ctgLh7ekE1s&feature=relmfu