... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Samstag, 30. Juni 2012

Prima Wetter



Wo sind die Tage, die so traurig waren
und deren Traurigkeit uns so bezwang?
Die Sonne scheint. Das Jahr ist sich im klaren.
Es ist, um schreiend aus der Haut zu fahren
und als Ballon den blauen Himmel lang!

Die grünen Bäume sind ganz frisch gewaschen.
Der Himmel ist aus riesenblauem Taft.
Die Sonnenstrahlen spielen kichernd Haschen.
Man sitzt und lächelt, zieht das Glück aus Flaschen
und lebt mit sich in bester Nachbarschaft.

Man könnte, denkt man, wenn man wollte, fliegen.
Vom Stuhle fort. Mit Kuchen und Kaffee.
Auf weißen Wolken wie auf Sofas liegen
und sich gelegentlich vornüber biegen
und denken:"Also, das dort ist die Spree."

Man könnte sich mit Blumen unterhalten
und Wiesen streicheln wie sein Fräulein Braut.
Man könnte sich in tausend Teile spalten
und vor Begeisterung die Hände falten.
Sie sind nur gar nicht mehr dafür gebaut.

Man zieht sich voller Zweifel an den Haaren.
Die Sonne scheint, als hätt' es wieder Sinn.
Wo sind die Tage, die so traurig waren?
Es ist, um förmlich aus der Haut zu fahren.
Die große Schwierigkeit ist nur: Wohin?

Erich Kästner

https://www.youtube.com/watch?v=Lf9yMzC-fPs

 
Danke an denjenigen, dessen Blog dieses Gedicht entsprang - als Danke für denjenigen, der mich heute Abend zum Lächeln und Wundern brachte. L.

Freitag, 29. Juni 2012

Die kleine Quelle
















Es war einmal, und es ist irgendwann,
und es geschieht genau zu dieser Zeit.
Da war ein Land von Dürre ausgezehrt.
Kein Regen, nicht ein Wölkchen weit und breit.

Zuerst das Gras, das alles Grün verlor.
Es wurde grau, und dann zerfiel zu Staub.
Die Büsche dürr, die heulten noch im Wind.
Die Bäume warfen ab ihr junges Laub.

Tiere schleppten sich von hinnen
Um der Wüste zu entrinnen.
Wenige entkamen, viele fanden frühen Tod.

Die Brunnen leer, die Quellen längst versiegt.
Nur heiße Steine, wo der Fluß verlief.
Ein alter Baum stand trotzig bis zuletzt,
mit starken Wurzeln, unermeßlich tief.

Die Trockenheit griff ihm schon an das Herz.
Die Sonne brannte, und sein Tod war nah.
Doch was war das: in seinem Schatten stand
Noch eine Blume wie ein Wunder da!

Eine kleine Quelle eben
Hielt die Blume noch am Leben,
weil sie ein paar kümmerliche Wassertropfen fand.

Die Quelle sah das Elend rings umher
Und wie die Dürre alles Land nahm.
Wozu sich um die letzte Blume mühen?
Sie spürte schon, wie sie ins Stocken kam.

Sie sprach verzagt: "Mein Tun hat keinen Sinn!
Ich halte doch die Wüste nicht mehr auf!"
Der alte Baum, der nun im Sterben lag,
entgegnete der Quelle schnell darauf:

"Du versprich mir auf der Stelle,
müh dich weiter kleine Quelle!
Gib dich nicht, auch wenn es schwer ist, der Verzweiflung hin.

Du sollst nicht die Wüste wässern,
nicht die ganze Welt verbessern,
nur die eine Blume tränken, darin liegt dein Sinn." 

Gerhard Schöne

https://www.youtube.com/watch?v=1GRbGVO_oHc




Donnerstag, 28. Juni 2012

Wo lernen wir?


Wo lernen wir leben
und wo lernen wir lernen
und wo vergessen
um nicht nur Erlerntes zu leben?

Wo lernen wir klug genug zu sein
die Fragen zu meiden
die unsere Liebe nicht einträchtig machen
und wo
lernen wir ehrlich genug zu sein
und unserer Liebe zuliebe
die Fragen nicht zu meiden?

Wo lernen wir
uns gegen die Wirklichkeit wehren
die uns um unsere Freiheit
betrügen will
und wo lernen wir träumen
und wach sein für unsere Träume
damit etwas von ihnen
unsere Wirklichkeit wird?

Erich Fried

https://www.youtube.com/watch?NR=1&v=ERSReFns9

Mittwoch, 27. Juni 2012

Der Irre ist gestorben


Im Wartesaal, wenn die Züge
Verspätung hatten,
erzählte er Märchen aus Tausend-
undeiner Nacht.

Er verstand es nie,
richtig zu grüßen. Auf guten Tag
sagte er immer: vielleicht.

Man weiß: er zog seinen Hut
vor den Hunden.
Seine Königskrone aus Zeitungspapier
trugen die Kinder nach Hause.

Der Fünfzeiler im Ortsteil der Zeitung
schloß mit den Worten: Es war
seine letzte Nacht,
als er im Park auf den Baum stieg.

Gerüchte gehen, er habe vergessen
sich festzuhalten,
als er den Friedensappell
an die Welt sprach.

Günter Bruno Fuchs

https://www.youtube.com/watch?v=t4Wv0SPbwIY

Dienstag, 26. Juni 2012

Ferne.


In den Jahren meiner ersten Jugend bin ich oft auf hohen Bergen allein gestanden, und mein Auge hing lange an der Ferne, an dem verklärten Duft der letzten zarten Hügel, hinter denen die Welt in tiefe, blaue Schönheit versank. Alle Liebe meiner frischen, begehrlichen Seele floß in eine große Sehnsucht zusammen und trat mir feucht ins Auge, das mit verzaubertem Blick die milde ferne Bläue trank. Die heimatliche Nähe erschien mir so kühl, so hart und so klar, so ohne Luft und Geheimnis, und dort war alles so mild getönt, so überflossen von Wohllaut, Rätsel und Lockung.
Ich bin seither ein Wanderer geworden und bin auf allen jenen duftig fernen Hügeln gestanden. Sie waren kühl, hart und klar, aber jenseits, weiter hinaus, lag wieder jene in Ahnung aufgelöste, selig blaue Tiefe - noch edler und sehnsuchtweckender. Noch oft sah ich sie verlockend liegen. Ich widerstand ihrem Zauber nicht, ich ward heimisch in ihr und ward fremd auf den Hügeln der Nähe und Gegenwart. Und das nenne ich nun das Glück: sich hinüberneigen, blaue Gefilde in weiter Abendferne erblicken und sie in kühler Nähe für Stunden vergessen. Das ist das Glück, etwas anderes als meine Jugend meinte, etwas Stilles und Einsames, schön, doch nicht fröhlich.
Aus meinem stillen Einsiedlerglück lernte ich die Weisheit, allen Dingen den Flaum des Fernen zu lassen, nichts in das kühle, grausame Licht der alltäglichen Nähe zu rücken und alles so zu berühren, als wäre es vergoldet, so leicht, so leise, schonend und hochachtend.
Hermann Hesse

Montag, 25. Juni 2012

L'accent grave




LE PROFESSEUR

Élève Hamlet!

L'ÉLÈVE HAMLET
(sursautant)

...Hein... Quoi... Pardon... Qu'est-ce qui se passe... Qu'est-ce q'il y a... Qu'est-ce que c'est?...

LE PROFESSEUR
(mécontent)

Vous ne pouvez pas répondre «présent» comme tout le monde? Pas possible, vous êtes encore dans les nuages.

L'ÉLÈVE HAMLET

Être ou ne pas être dans les nuages!

LE PROFESSEUR

Suffit. Pas tant de manières. Et conjugez-moi le verbe être, comme tout le monde, c'est tout ce que je vous demande.

L'ÉLÈVE HAMLET

To be...

LE PROFESSEUR

En Français, s'il vous plaît, comme tout le monde.

L'ÉLÈVE HAMLET

   Bien, monsieur. (Il conjuge:)
Je suis ou je ne suis pas
Tu es ou tu n'es pas
Il est ou il n'est pas
Nous sommes ou nous ne sommes pas...

LE PROFESSEUR
(excessivement mécontent)

Mais c'est vous qui n'y êtes pas, mon pauvre ami!

L'ÉLÈVE HAMLET

   C'est exact, monsieur le professeur,
Je suis «où» je ne suis pas
Et, dans le fond, hein, à la reflexion,
Être «où» ne pas être
C'est peut-être aussi la question.

Jacques Prévert




Sonntag, 24. Juni 2012

Wach


Und irgendwann
Träumen wir doch aus
Schlagen die Augen auf
Ernüchtert und traumlos
Wach, aber betäubt
Ein dumpfes Klopfen
Nähe Herzgegend
Etwa Leben? Jetzt?
Möglich.
Freigabe unter Hingabe,
atemlos.

Luise

Un staccato per M. nella furia sollevata e nella sperenza bassa in un'altra mattina,
per potere andare finalmente, solo sotto la pioggia calda.
L.

Samstag, 23. Juni 2012

Drüben

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen
und irgendwer steht auf dahier …
Den will er über die Kastanien tragen:

«Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!
Erst jenseits der Kastanien ist die Welt...»

Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun,
dann halt ich ihn, dann muß er sich verwehren:
ihm legt sich mein Ruf ums Gelenk!
Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren:
«Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng...»
Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun.

Doch wenn die Nacht sich auch heut nicht erhellt
und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen:
«Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!»
Und will ihn über die Kastanien tragen -
dann halt, dann halt ich ihn nicht hier …

Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Paul Celan



Freitag, 22. Juni 2012

[Herzzeit]




[...]
Lass mich alles wissen, was mitteilbar ist, und darüber hinaus vielleicht manchmal eines von den leiseren Worten, die sich einfinden, wenn man allein ist und nur in die Ferne sprechen kann.
Ich tue dann dasselbe.

Das Lichteste dieser Stunde!
Paul

aus: Ingeborg Bachmann & Paul Celan (u.a.), Herzzeit, Frankfurt am Main, 2009, Suhrkamp Verlag












Donnerstag, 21. Juni 2012

Nachtigall


Ich baute mir ein Haus in den Wäldern
Um dich singen zu hören
Und ich sah, dass es schön und gut
Und darin Liebe enthalten war

Lebe wohl!, meine Nachtigall
Lang ist's her, dass ich dich fand
All deine Gesänge von Schönheit dahin
Jetzt, wo der Wald sich um dich schließt

Die Sonne senkt sich hinter Schleiern
Moment, in dem du mich sonst riefst
Schlaf in Frieden, meine Nachtigall
Unter deinem Stechpalmenheim

Lebe wohl!, meine Nachtigall
Nur dir wollte ich nahe sein
Ich kann dich nicht mehr hören
Obwohl du irgendwo im Stillen singst

Leonard Cohen

http://www.youtube.com/watch?feature=endscreen




Mittwoch, 20. Juni 2012

UMSONST


UMSONST malst du Herzen ans Fenster:
der Herzog der Stille
wirbt unten im Schloßhof Soldaten.
Sein Banner hißt er im Baum - ein Blatt, das ihm blaut, wenn  es herbstet;
die Halme der Schwermut verteilt er im Heer und die Blumen der Zeit der Zeit;
mit Vögeln im Haar geht er hin zu versenken die Schwerter.

Umsonst malst du Herzen ans Fenster: ein Gott ist unter den Scharen,
gehüllt in einen Mantel, der einst von den Schultern dir sank auf der Treppe, zur Nachtzeit,
einst, als in Flammen das Schloß stand, als du sprachst wie die Menschen: Geliebte...
Er kennt nicht den Mantel udn rief nicht den Stern an und folgt jenem Blatt, das vorausschwebt.
"O Halm", vermeint er zu hören, "o Blume der Zeit".

Paul Celan

http://www.youtube.com/watch?v=gzNZiFB_nvA

Dienstag, 19. Juni 2012

Bücher! [2]



   "Ich bereue diese Buchorgien nicht. Ich fühle mich wie in der Zeit der Expansion für Masse und Macht. Auch damals geschah es alles durch Abenteuer mit Büchern. Als ich kein Geld hatte, in Wien, gab ich alles, was ich nicht hatte, für Bücher aus. In London, in der schlimmsten Zeit, gelang es mir irgendwie immer noch von Zeit zu Zeit Bücher zu kaufen. Ich habe nie etwas systematisch gelernt, wie andere Leute, sondern nur in plötzlichen Aufregungen. Sie begannen damit, daß mein Blick auf etwas fiel, das ich dann immer haben mußte. Die Geste des Ergreifens, die Freude am Hinauswerfen von Geld, das nach Hause oder ins nächste Lokal Tragen, das Betrachten, das Streicheln, das Blättern, das Wegstellen für Jahre, die Zeit neuer Entdeckung dann, wenn's ernst wurde - alles das ist Teil eines schöpferischen Prozesses, dessen verborgene Einzelheiten ich nicht kenne. Aber anders geschieht bei mir nichts, und so werde ich bis zum letzten Augenblick meines Lebens Bücher kaufen müssen, besonders wenn ich ganz sicher weiß, daß ich sie nie mehr lesen werde.
  
   Es ist, glaube ich, auch ein Teil des Trotzes gegen den Tod. Ich will nie wissen, welche dieser Bücher ungelesen bleiben werden. Bis zum Schluß kann es nicht bestimmt sein, welche es sind. Ich habe die Freiheit der Wahl, unter allen Büchern um mich herum kann ich jederzeit frei wählen und habe dadurch den Verlauf des Lebens in meiner Hand. "

Elias Canetti

http://www.youtube.com/watch?v=SKVcQnyEIT8

Montag, 18. Juni 2012

Dein Haar überm Meer





















Es schwebt auch dein Haar überm Meer mit dem goldnen Wacholder.
Mit ihm wird es weiß, dann färb ich es steinblau:
die Farbe der Stadt, wo zuletzt ich geschleift ward gen Süden...
Mit Tauen banden sie mich und knüpften an jedes ein Segel
und spieen mich an aus nebligen Mäulern und sangen:
"O komm übers Meer!"
Ich aber malt als ein Kahn die Schwingen mir purpurn
und röchelte selbst mir die Brise und stach, eh sie schliefen, in See.
Ich sollte sie dir rot färben, doch lieb ich sie steinblau:
O Augen der Stadt, wo ich stürzte und südwärts geschleift ward!
Mit dem goldnen Wacholder schwebt auch dein Haar überm Meer.

Paul Celan

Sonntag, 17. Juni 2012

Ich bereue nichts

Von der Frau aus die ich bin
betrachte ich manchmal die
die ich sein könnte.
Vortreffliche Frauen
ordentlich und nett
tugendhaft und sanft
wie meine Mutter mich wollte.
Ich weiß nicht warum
ich mein ganzes Leben gegen sie revoltierte.
Ich hasse ihre Bedrohung in meinem Körper
die Schuld die ihr tadelloses Leben
durch wer weiß welchen Zauber
mir einflößt.
Ich lehne mich auf gegen ihre guten Taten
ihre heimlichen Tränen nachts unter dem Kissen
wenn der Mann sie nicht sieht
die Reine ihrer Nacktheit unter der gebügelten Wäsche.
Diese Frauen
sehen mich an aus dem Innern ihrer Spiegel
heben anklagend den Finger
und manchmal gebe ich ihrem Vorwurf nach
und suche die totale Anerkennung
möchte das liebe Mädchen sein, die anständige Frau
die gute Gioconda ohne Fehl und Tadel
mit einer Eins in Betragen
verliehen von der Partei, dem Staat, den Freunden,
meiner Familie, meinen Kindern und allen übrigen Lebewesen
die unsere Erde so reich bevölkern.
Um diesen unsichtbaren Widerspruch
zwischen dem was ist und hätte sein können
habe ich viele tödliche Kämpfe gefochten
unnütze Kämpfe zwischen ihnen und mir
- sie gegen mich die ich ich selbst bin -.
Mit schmerzender Seele raufe ich mein Haar
überschreite uralte Programmierung
und zerreiße die inneren Frauen
die seit meiner Kindheit mir die Augen auskratzen
weil ich nicht in das Maß ihrer Träume passe
weil ich es wage, fehlbar zu sein, glühend,
empfindlich, eine Irre die wie ein Marktweib
sich begeistert für jede gerechte Sache
für schöne Männer und tanzende Worte
weil ich, erwachsen, die verbotene Kindheit lebte,
zur Bürozeit auf Schreibtischen liebte
geheiligte Bande zerriß
und es wagte den gesunden schwellenden Körper zu genießen
den mir die Gene aller meiner Vorfahren vermachten.
Ich gebe keinem die Schuld. Eher bin ich dankbar.
Ich bereue nichts, wie Edith Piaf es sagte.
Doch in den dunklen Brunnen in die ich versinke
an den Morgen wenn die Tränen
in die kaum offenen Augen drängen
trotz des Glücks
das ich endlich gewann
indem ich Schichten udn Ablagerungen
tertiären und quartären Gesteins durchstieß
sehe ich meine anderen Frauen versammelt im Kreis
ihre schmerzlichen Blicke

und fühle mich schuldig glücklich zu sein.
Die Geister kleiner Mädchen
tanzen im Kreis und singen ihre Ringelreihen
gegen mich
gegen diese Frau
mit allem Drum und Dran
mit Brüsten auf der Brust
und breiten Hüften
die ich, dank meiner Mutter und trotz ihr,
nun einmal bin.

Gioconda Belli

Für die starke und warme Frau, die mir das Leben schenkte.


Samstag, 16. Juni 2012

DER HIMMEL



 DER HIMMEL war heute so blau,
als wollte der winter eine pause
einlegen für diesen tag,

da man sich entschließen könnte,
auf eine insel zu fliegen,
um in ewigkeit dort zu bleiben.

wie seltsam, dass wir immer ein ende
vor augen haben beim gedanken an ewigkeit,
und so starrten wir ins erdreich am heutigen tag,

wo wir ein ende zu sehen glaubten,
während, mag sein, ein andrer anfang
sich längst schon erhob,

flügelleicht, leise und unbemerkt,
um uns im blau des himmels zu überfliegen,
reif für den sommer seiner insel.

Christoph Leisten 



Freitag, 15. Juni 2012

Niemand sucht aus

























Man sucht sich das Land seiner Geburt nicht aus,
und liebt doch das Land, wo man geboren wurde.

Man sucht sich die Zeit nicht aus, in der man die Welt betritt,
aber muß Spuren in seiner Zeit hinterlassen.

Seiner Verantwortung kann sich niemand entziehen.

Niemand kann seine Augen verschließen, nicht seine Ohren,
stumm werden und sich die Hände abschneiden.

Es ist die Pflicht von allen zu lieben,
ein Leben zu leben,
ein Ziel zu erreichen.

Wir suchen den Zeitpunkt nicht aus, zu dem wir die Welt betreten,
aber gestalten können wir diese Welt,
worin das Samenkorn wächst,
das wir in uns tragen.

Gioconda Belli



Donnerstag, 14. Juni 2012

Die Brücken


Straffer zieht der Wind das Band vor den Brücken

An den Traversen zerrieb
der Himmel sein dunkelstes Blau.
Hüben und drüben wechseln
im Licht unsre Schatten.

Pont Mirabeau... Waterloobridge...
Wie ertragen's die Namen,
die Namenlosen zu tragen?

Von den Verlornen gerührt,
die der Glaube nicht trug,
erwachen die Trommeln im Fluß.

Einsam sind alle Brücken,
und der Ruhm ist ihnen gefährlich
wie uns, vermeinen wir doch,
die Schritte der Sterne
auf unserer Schulter zu spüren.
Doch übers Gefälle des Vergänglichen
wölbt uns kein Traum.

Besser ist's, im Auftrag der Ufer
zu leben, von einem zum andern,
und tagsüber zu wachen,
daß das Band der Berufene trennt.
Denn er erreicht die Schere der Sonne
im Nebel, und wenn sie ihn blendet,
umfängt ihn der Nebel im Fall.

Ingeborg Bachmann



Mittwoch, 13. Juni 2012

...


Wer sehr lange lebt, verliert doch nur dasselbe wie jemand, der jung stirbt.
Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt.

Marc Aurel

Für A. - auch Tränen sind Ausdruck von Kraft und Mut.



Dienstag, 12. Juni 2012

Reklame

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber 
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter 
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir 
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt


Ingeborg Bachmann




Montag, 11. Juni 2012

Im Keller

Übermäßiges Lieben
Herzen wie grüne Bäume
oder Kamelkarawanen
hoben in mir 
einen tiefen Keller der Traurigkeit aus.
Wie der Dunst feuchter Höhlen
voll gestapelter Weinfässer
zerschneidet der Hauch der Traurigkeit
die Luft
und hüllt mich in ein in seine Dämpfe.
So kommt es daß ich manchmal 
den netten Menschen verlasse
den ich meistens bewohne
und mich in eine Frau verwandle 
die ihre Kleider zerreißt
im Schatten.

Gioconda Belli
 


Sonntag, 10. Juni 2012

ein Schritt ins Leere

[...]
   Nostalgie ist ein atmosphärischer Zustand
als käme sie von der baltischen Küste
   Angst vor Begierde
das einzig Makellose bevor das Altern beginnt
   ich sehe die Schiffe, wie sie schwerfällig schaukeln
in der nässenden Sonne
   ein Gefühl von Unendlichkeit
schneidet in die Wüste, Schenkel einer schlafenden Frau
   bestimmte Ansichten
entstellen meinen Blick
   ich kann die Erosionen meines Gehirns nicht ertasten
bin mir weniger gewiss
   als ein denkendes Ei
früher besaß ich ein Fernglas
   und vergrößerte alles damit
über den Dächern
   erblühten die Gärten
wie Sand zu Glas

Nora Iuga


Samstag, 9. Juni 2012

Wenigstens Blumen, wenigstens Lieder






Von uns bleibt mehr
als Worte oder Gesten:
der glühende Wunsch nach Freiheit,
ansteckende Sucht.

Gioconda Belli















Freitag, 8. Juni 2012

Abend II


Wie eine Linie dunkelblauen Schweigens 
liegt fern der Horizont, von weichem Rot umsäumt.
Die Wipfel schaukeln wie im Banne eines Reigens, 
das Licht ist wie im Märchen, sanft und blau verträumt.
Der Himmel ist noch hell, noch kaum sieht man die Sterne,
die Luft ist kühl und weich wie eine Frauenhand 
und süße Melodie dringt aus der fernsten Ferne:
Musik einer Schalmei, zauberhaft; unbekannt.

Selma Meerbaum-Eisinger; 12. Dezember 1941 (1924 - 1942)

Donnerstag, 7. Juni 2012

Strömung


So weit im Leben und so nah am Tod, 
daß ich mit niemand damit rechten kann,
reiß ich mir von der Erde meinen Teil;

dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.

Zimtvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.

Ingeborg Bachmann

http://www.youtube.com/watch?v=9b62YpBzgJA 



Mittwoch, 6. Juni 2012

Ende und Beginn, Beginn und Ende


  

   Ich war den ganzen Tag im Wald. Jetzt bin ich müde in einen kleinen Landgasthof eingekehrt und habe mir ein Zimmer für die Nacht geben lassen. Das Bett ist schon aufgedeckt, aber ich mag noch nicht schlafen. Ich setze mich ans Fenster und lausche auf die Geräusche der Frühlingsnacht. 

   Schatten fließen zwischen den Bäumen hindurch, und vom Walde her kommen Rufe, als lägen dort Verwundete. Ich sehe ruhig und gefaßt in das Dunkel, denn ich fürchte die Vergangenheit nicht mehr. Ich blicke ihr in die erloschenen Augen, ohne mich abzuwenden. Ich gehe ihr sogar entgegen, ich schicke meine Gedanken zurück in die Unterstände und Trichter - aber wenn sie wiederkehren, bringen sie keine Angst und kein Entsetzen mehr mit, sondern Kraft und Willen.

   Ich habe auf einen Sturm gewartet, der mich retten und fortreißen müßte; doch nun ist es leise gekommen, ohne daß ich es gefühlt habe. Aber es ist da. Während ich verzweifelte und alles verloren glaubte, wuchs es still heran. Ich glaubte, Abschied sei immer ein Ende. Heute weiß ich: Auch Wachsen ist Abschied. Auch Wachsen heißt Verlassen. Und es gibt kein Ende.

Erich Maria Remarque, Der Weg zurück, Berlin, 1988, Aufbau Verlag

http://www.youtube.com/watch?v=_Sm39xz61R

Dienstag, 5. Juni 2012

Bücher!

























Wir aber brauchen die Bücher,
die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt,
wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns,
wie wenn wir in Wälder verstoßen würden,
von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord,
ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904

http://www.youtube.com/watch?v=nmwpR5_49uk 

Montag, 4. Juni 2012

Gleichgewicht


Eine Stunde entziehe ich mich
Den drängenden Tagesgeschäften
Und überprüfe mein Ich
Und suche mit allen Kräften
Den Sinn zu finden, der mich bindet
An dieses Leben, das ich lebe...
Die Schwäche, die mich quält, entschwindet
Im Wort, in das ich sie aufhebe.

Das wiederholt sich alle Tage:
Die Suche nach dem Gleichgewicht.
Ich balanciere, was ich trage,
Vorsichtig aus. Und mein Gesicht
Leistet ein Lächeln. Darauf zielen
Meine Versuche im Gedicht:
Nicht mit den Worten will ich spielen,
Sondern das Leben will ich zwingen,
Daß es sich in Gesang verwandelt:
So wie man handelt, wird es singen,
Und es bleibt stumm, wenn man nicht handelt.

Eva Strittmatter, Der Wildbirnenbaum, Berlin, 2012, atb




Le plus grand merci à Julien et Rébecca - ici, vous nous manquez beaucoup! 
Soyez nos bienvenus de nouveau à Berlin! Nicole et Luise

Sonntag, 3. Juni 2012

...


Dein
Hinübersein heute Nacht
Mit Worten holt ich dich wieder, da bist du,
alles ist wahr und ein Warten
auf Wahres.

Es klettert die Bohne vor
unserm Fenster: denk
wer neben uns aufwächst und
ihr zusieht.

Gott, das lasen wir, ist
ein Teil und ein zweiter, zerstreuter:
im Tod
all der Gemähten
wächst er sich zu.

Dorthin
führt uns der Blick,
mit dieser
Hälfte
haben wir Umgang.

Paul Celan

Samstag, 2. Juni 2012

Quiero / Ich will



Ich will, dass du mir zuhörst, ohne über mich zu urteilen
Ich will, dass du deine Meinung sagst, ohne mir Ratschläge zu erteilen
Ich will, dass du mir vertraust, ohne etwas zu erwarten
Ich will, dass du mir hilfst, ohne für mich zu entscheiden
Ich will, dass du für mich sorgst, ohne mich zu erdrücken
Ich will, dass du mich siehst, ohne mich in dir zu sehen
Ich will, dass du mich umarmst, ohne mir den Atem zu rauben
Ich will, dass du mir Mut machst, ohne mich zu bedrängen
Ich will, dass du mich hältst, ohne mich festzuhalten
Ich will, dass du mich beschützt, aufrichtig
Ich will, dass du dich näherst, doch nicht als Eindringling
Ich will, dass du all das kennst, was dir an mir missfällt, dass du all das akzeptierst... versuch es nicht zu ändern
Ich will, dass du weißt... dass du heute auf mich zählen kannst.
Bedingungslos.

Jorge Bucay

Per M. in simpatia già dimenticata



Freitag, 1. Juni 2012

Berlin



















Mein gespräch, meine lieder,
Mein haß und mein glück,
Mein tag, meine nacht, mein vor, mein zurück,
Meine sonne und schatten, zweifel, die ich hab,
An dir und in mir bis zum letzten tag.
Deine straßen, wo ich fliehe, stolper und fall,
Deine wärme, die ich brauch, die ich spüre überall.

Verkauf dich nicht,
Berlin,
Jung bist du nicht,
Du alterst so schnell,
Buckelst zu sehr,
Trägst an den geldern der freier so schwer.
Die werden gehn,
Dich sterben sehn,
Berlin,
Geliebte berlin.

Deine ecken und winkel, deine höfe ungezählt,
Wo der dreck und die armut nach veränderung bellt,
Dein rausch am morgen
Riecht nach haschisch und bier,
Und rotz fällt gelassen auf gassen von dir.
Deine märkte, die weiber, ihre ruhe, ihre list
Und manchmal ein witz, der mich in den magen trifft.
 
Verkauf dich nicht,
Berlin,
Jung bist du nicht,
Du alterst so schnell,
Buckelst zu sehr,
Trägst an den geldern der freier so schwer.
Die werden gehn,
Dich sterben sehn,
Berlin,
Geliebte berlin.

Deine häuser mit fluren,
Wo man prügelt, wo man lacht,
Wo man, wenns dunkel wird,
Neue mitbewohner macht.
Deine räume, in denen der schlaf ungern kommt,
Weil die luft zum atmen fehlt,
Wo der sensemann wohnt,
Doch wo du freisein erfährst in dieser großen stadt,
Obwohl sie einengt und preßt und viele mauern hat.

Verkauf dich nicht,
Berlin,
Jung bist du nicht,
Du alterst so schnell,
Buckelst zu sehr,
Trägst an den geldern der freier so schwer.
Die werden gehn,
Dich sterben sehn,
Berlin,
Geliebte berlin.

Mein gespräch, meine lieder,
Mein haß und mein glück,
Mein tag, meine nacht, mein vor, mein zurück.
Dein halbtoter bahnhof, wo ich unter denen steh,
Die morgen, schon morgen in bessre städte gehn.
Wo ich dich verlassen will,
Immer wieder, immer noch,
Ich schaff den sprung auch,
Ich schaff den sprung doch.

Klaus Hoffmann