... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Montag, 31. Dezember 2012

Mitten im Land




Von den über Hänge
gestrafften Wiesen
gleiten und in
Getreidefeldern
wälzen sich Wind
und Windeskinder
Dort steh ich
dich seh ich
Herzschlag in meiner Zunge

Christoph Wilhelm Aigner



Sonntag, 30. Dezember 2012

Aber solange ich lebe


Auch was
auf der Hand liegt
muss ich
aus der Hand zu geben
bereit sein

und muss wissen
wenn ich liebe
dass es wirklich
die Liebe zu dir ist
und nicht nur
die Liebe zur Liebe zu dir
und dass ich nicht
eigentlich
etwas Uneigentliches will

Aber
solange ich atme
will ich
wenn ich den Atem
anhalte
deinen Atem
noch spüren
in mir

Erich Fried



Samstag, 29. Dezember 2012

Landsolo



Langsamer Wind 
Getreidefeld
Wimpern am schläfrigen Sommer
Alleinsein mit wem

Christoph Wilhelm Aigner





Freitag, 28. Dezember 2012

winterabend

haut an haut
stille an haut
habe vergessen
wer du bist

die zeit ist gelöscht

und so dunkel sind die 
farben der nacht sind dunkel
trotz mondschein
zu mächtig wahrscheinlich

aber 

gemeinsam sind wir bei laune
das wegwollen
ist ja nur sehnsucht
seit der erfindung 
der vögel

joschi anzinger



Donnerstag, 27. Dezember 2012

Bücher


Die Situation ist unklar. Ein kleiner Tisch in strömendem Wasser. Wenn seine Beine von normaler Länge sind, kann das Wasser nicht tief sein. Ein breiter Bach oder eine überflutete Stelle. An den kleinen Wellen und Wirbeln sieht man, dass es schnell fließt. Hinter dem Tisch so etwas wie ein Ufer, dann ein dunkler Hintergrund, eine Felswand oder ein bewachsener Hang. Der Tisch ist aus Metall, Platte und Beine sind aus dem gleichen glänzenden Material, modern, alles leicht erkennbar. Er gehört nur nicht ins Wasser, und das schon gar nicht, weil Bücher auf ihm liegen. Menschen sind nirgends zu sehen, ich bin hier der einzige.
Was für Bücher es sind, kann ich nicht sagen, sie liegen geschlossen da, nur der untere Schnitt ist sichtbar. Keine Rücken, keine Buchstaben. Sie sind nicht neu, die Bücher. Sie sind übereinandergestapelt, aber dennoch auch kreuz und quer. Wenn sie lange so liegenbleiben, werden sie feucht. Wem gehören sie? Wer hat sie dort gelassen?
Es könnten Registerbände sein, aber auch Anthologien, Lehrbücher, Abhandlungen, Meisterwerke. Weil sie durcheinanderliegen, kann ich sie nicht richtig zählen, es müssen ungefähr dreißig sein. Wenn ich lange schaue, wird es unbehaglich. Bücher wollen etwas von Menschen, das wollen sie immer, selbst wenn sie geschlossen sind. Ich weiß, dass die Bücher dort im Bach Titel haben, ich weiß, dass die Seiten mit Millionen von Zeichen bedeckt sind, die ich lesen kann, aber ich komme nicht dran. Es sind dicke Bücher, unendlich viele Worte müssen darin stehen, die etwas erzählen oder darlegen wollen, die die Gedanken derjenigen ausdrücken, die sie geschrieben haben. Außer dem strömenden Wasser gibt es zunächst kein eindeutiges Geräusch, dann aber höre ich unter dem leisen Rauschen ein langsam drängender werdendes wütendes Murmeln, als sänge ein Chor mit zusammengebissenen Zähnen, ein atonales, bösartiges Summen, das keine Bedeutung preisgibt, ein erstickendes Lamento aus Druckerschwärze und Papier, das Geräusch, das Bücher machen, wenn sie wissen, sie werden verbrannt oder ertränkt, die Trauer um das, was nie mehr gelesen wird. 

Cees Nooteboom, Briefe an Poseidon, Suhrkamp Verlag, 2013, Berlin



I'm tired
I'm weary
I could sleep for a thousand years

The Velvet Underground / Venus in Furs
(M an  L - 
Take your time, I won't wait.)


Mittwoch, 26. Dezember 2012

Kleine Wellen, gekräuselt.


Im Hof spielten die Kinder umgeben von jahrhundertealter Vergangenheit. Die Stadt war uralt, ausgehöhlt, angefüllt mit Grotten und unterirdischen Verstecken. An Sommernachmittagen, wenn die Hausbewohner Ferien machten oder hinter ihren Rollläden verschwanden, ging ich in den zweiten Hof, wo es eine Zisterne gab, über der Holzbretter lagen. Ich setzte mich darauf, um die Geräusche zu hören. Vom Grund, wer weiß, wie tief unter mir, kam ein Rauschen bewegten Wassers.

Erri de Luca, Der Tag vor dem Glück, Graf Verlag, 2010, Berlin



Dienstag, 25. Dezember 2012

Beschriebene unbeschriebene Liebe

Ich klage:
Die Liebe hat oft 
und oft den Tod beschrieben
aber der Tod nicht die Liebe
und das ist ungerecht.

Der Tod sagt:
Ich habe die Liebe
immer wieder beschrieben
nur ihr könnt meine Schrift nicht lesen
Das ist nicht meine Schuld.

Erich Fried

Montag, 24. Dezember 2012

Weihnachten



Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,

Alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigts wie wunderbares Singen -
O du gnadenreiche Zeit!

Joseph von Eichendorff



Zeit für etwas Klassisches. Nicht aus Notwendigkeit, sondern aus stiller, glücklicher Freude.
Zum ersten Mal seit drei Jahren im Buchhandel wieder Vorfreude auf Weihnachten verspüren.
Was für ein feines Geschenk.

Euch allen - fröhliche Weihnachten!


Moment venu pour quelque chose classique. Pas par nécessité, mais d'une joie tranquille et heureuse. Ressentir enfin de nouveau la joie à l'avance dans ma troisième année au commerce du livre.
Quel cadeau magnifique!

À vous tous - joyeux Noël!




Sonntag, 23. Dezember 2012

XIII



Er hat die Frau auf der Straße gesehen und ist mit ihr gegangen. Treppen, ein erniedrigtes Haus. Die Frau ist jung, die Wüste ist ihr Ursprung. Beide sind fremd in der Stadt, was sie verbindet, ist Verbannung, Aussonderung. Lust ist der Vorwand. Das andere bleibt, ein Gerücht zwischen Menschen. Sie kniet auf dem Bett, so daß er ihr Gesicht nicht mehr sieht, und streckt den Arm zur violetten Öffnung, in der er verschwinden soll. Sie sprechen kaum, und nicht in ihren eigenen Sprachen. Eine Frau aus einer Sandlandschaft, die ihren Durst bewahren kann. Aus dem Fremden macht man einen Hund oder einen Toten. Man behält das Gesicht für sich selbst und ist blind für das seine. Von allen Formen der Liebe ist die zwischen Unbekannten die rätselhafteste, und die überzeugendste. Sie geben einander der Stadt zurück, in der sie verschwinden müssen.

Cees Nooteboom, Selbstbildnis eines Anderen, Suhrkamp Verlag, 1996, Frankfurt am Main





Samstag, 22. Dezember 2012

V



Er ist den ganzen Tag durch die schwitzende Stadt gelaufen und wie ein Maulwurf in die U-Bahn hinein und hinaus, immer blinder ins Licht blinzelnd, wenn er wieder nach oben kam. Er hatte kein Ziel, die Stationen hatte er willkürlich gewählt, Straßen mit hohen und niedrigen Nummern, Plätze in vergessenen Vierteln, verfallene Parks mit zerstörten Schaukeln. Überall ist er umgeben von anderen Menschen, die endlosen Reihen ihrer Gesichter hat er für später eingespeichert, wenn er wieder allein sein wird. Er ist einer Frau mit einem Hund gefolgt, der nicht in Städte gehört.  Als sie hinter einer farblosen Haustür verschwanden, hatte der Hund ihn lange angesehen, wie ein Hund einen Menschen nicht anzusehen hat. Auch ihn mußte er also bewahren. Mit dem Fortschreiten des Tages sieht er, wie die Gesichter sich verändern, unerkennbar werden. Er überlegt sich, wie das bei ihm selbst ist, wagt sein Gesicht jedoch nicht zu berühren und weicht seinem Blick in den Schaufenstern aus. Als er zum letztenmal in der verformenden Nacht nach oben steigt, hört er, wie sie ihm folgen, wie nah sie schon sind. Das leise Ticken ihrer Nägel klingt wie eine immer schneller laufende Uhr.

Cees Nooteboom, Selbstbildnis eines Anderen, Suhrkamp Verlag, 1996, Frankfurt am Main


Für Katharina, heute, an meinem Tauftag. 
L.

Freitag, 21. Dezember 2012

III


Nahe beim großen Platz mit dem Obelisken steht das Gebäude mit dem Frauenkopf über dem Eingang. Die Stadt liegt auf der anderen Seite der Insel, manchmal fährt er dorthin, um diesen Kopf zu betrachten. Er ist verschleiert, aber nicht so, wie man denken würde. In den flachen Bogen über dem Tor ist ein Rechteck ausgespart, das fast zu klein für sie ist. Der Schleier bedeckt nicht den unteren, sondern den oberen Teil ihres Gesichts. Die Nase ist grob, der Kopf weiblich und sehr rund, der kleine Mund mit den vollen Lippen halb geöffnet. Die Zunge dahinter ist nicht zu sehen, könnte jedoch jeden Moment zum Vorschein kommen und flüchtig über die Lippen lecken, das hat etwas Wollüstiges. Am merkwürdigsten sind die fehlenden Augen. Sie sind da und zugleich nicht da. Das Tuch, das bis zur Mitte der Nase herabhängt, wird von irgendeiner unerklärlichen Kraft an die Augäpfel gedrückt, die steinernen Falten laufen quer über die großen Rundungen. Er denkt, daß sie blind ist, aber gerade dieses Tuches wegen, das keine Augenbinde ist, kann er es nicht erkennen. Je länger er sie betrachtet, desto geheimnisvoller wird sie. Könnte sie sprechen, so wäre es in seiner Sprache. Jedesmal, wenn er sie allein zurückläßt, hat er das Gefühl, er habe versagt. 

Cees Nooteboom, Selbstbildnis eines Anderen, Suhrkamp Verlag, 1996, Frankfurt am Main 


Donnerstag, 20. Dezember 2012

[12]

XXX

Le poème est l'amour réalisé du désir demeuré désir.



XXX

Das Gedicht ist die verwirklichte Liebe der Sehnsucht, die Sehnsucht blieb.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main


Mittwoch, 19. Dezember 2012

[11]


Nous n'appartenons à personne
sinon au point d'or de cette lampe inconnue de nous, 
inaccessible à nous qui tient éveillés le courage et le silence. 


Wir gehören niemandem, 
es sei denn dem Goldflämmchen jener uns unbekannten, 
uns unerreichbaren, den Mut und das Schweigen wachhaltenden Lampe.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main 


Wir sind  frei, frei, so unendlich frei. 
Vielleicht. Hatten wir gehofft. 
Sind wir es? 
L.




Dienstag, 18. Dezember 2012

[10]


Rosée des hommes qui trace et dissimule ses frontières 
entre le point-du-jour et l'émersion du soleil, 
entre les yeux qui s'ouvrent et le cœur qui se souvient.


Tau der Menschen, der seine Grenzen zieht und sie wieder unsichtbar macht. 
Sie verlaufen zwischen Tagesanbruch und Sonnenaustritt, 
zwischen den Augen, die sich auftun, und dem Herzen, das sich erinnert.

René Char, Poésies – Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main



Montag, 17. Dezember 2012

[9]


Peu de jours avant son supplice, Roger Chaudon me disait: 
»Sur cette terre, on est un peu dessus, beaucoup dessous. 
L'ordre des époques ne peut être inversé. C'est, au fond, 
ce qui me tranquillise, malgré la joie de vivre 
qui me secoue comme un tonnerre...«



Roger Chaudon, der wenige Tage vor seiner Hinrichtung zu mir sagte:
»Auf dieser Erde ist man ein bißchen oben, sehr viel länger unten. 
Wie diese Zeiten aufeinanderfolgen, das läßt sich nicht umkehren. 
Was mich letzten Endes beruhigt, trotz der Lebensfreude in mir, 
die mich schüttelt wie Donner...«

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main





Sonntag, 16. Dezember 2012

[8]


Je ris merveilleusement avec toi. Voilà la chance unique.

Ich lache wunderbar mit dir. Das ist das einzige Glück.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main



Ah! Monsieur Char, un peu polarisant comme d'habitude.
N'y-a-t-il pas plus de pet' bonheurs? J'en trouve plusieurs...
L.


Samstag, 15. Dezember 2012

[7]


Il faut intarissablement se passionner, en dépit d'équivoques découragements et si minimes que soient les réparations.

Sich begeistern, mit nie versiegender Leidenschaft, allen zweideutigen Entmutigungen,
 aller noch so nichtssagenden Genugtuung zum Trotz.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlag, 1959, Frankfurt am Main


Freitag, 14. Dezember 2012

[6]


Toucher de son ombre un fumier, 
tant notre flanc referme de maux et notre cœur de pensées folles, se peut; 
mais avoir en soi un sacré.


Mit seinem Schatten einen Misthaufen streifen – 
so viel Leidenschaft birgt unser Leib und irre Gedanken unser Herz –, 
das ist möglich; aber dabei ein Heiliges in sich haben.

René Char, Poésies – Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main



Donnerstag, 13. Dezember 2012

[5]


Halbschatten

Ich war in einem dieser Wälder, zu denen die Sonne keinen Zugang hat, in die aber des Nachts die Sterne eindringen. Dieser Ort durfte nur deshalb bestehen, weil die staatliche Inquisition ihn übersah. Die abgeschüttelten Sklavendienste wiesen mir ihre Verachtung. Der quälende Zwang zu strafen war mir erlassen. Hier und da liebkoste die Erinnerung an eine Kraft die ländliche Fuge des Grases. Ich lenkte mich ohne Doktrin, mit gelassenem Ungestüm. Ebenbürtig war ich den Dingen, deren Geheimnis sich unter der Spannweite eines Flügels verbarg. Ungeboren bleibt für die meisten das Wesentliche, und die es besitzen, können es nicht austauschen, ohne Schaden zu nehmen. Niemand erklärt sich bereit, das zu verlieren, was er sich mit blanker Mühe erkämpft hat. Sonst wäre die Zeit der Jugend und Anmut da, Quelle und Delta hätten dieselbe Reinheit.
Ich war in einem dieser Wälder, zu denen die Sonne keinen Zugang hat, in die aber des Nachts die Sterne eindringen zu unversöhnlicher Feindschaft.



Pénombre

J'étais dans une des forêts où le soleil n'a pas accès mais où, la nuit, les étoiles pénètrent. Ce lieu n'avait permis d'exister, que parce que l'inquisition des états l'avait négligé. Les servitudes abandonnées me marquaient leur mépris. La hantise de punir m'était retirée. Par endroit, le souvenir d'une force caressait la fugue paysanne de l'herbe. Je me gouvernais sans doctrine, avec une véhémence sereine. J'étais l'égal de choses dont le secret tenait sous le rayon d'une aile. Pour la plupart, l'essentiel n'est jamais né et ceux qui le possèdent ne peuvent l'échanger sans se nuire. Nul ne consent à perdre ce qu'il a conquis à la pointe de sa peine! Autrement ce serait la jeunesse et la grâce; source et delta auraient la même pureté. 
J'étais dans une des forêts où le soleil n'a pas accès mais où, la nuit, les étoiles pénètrent pour d'implacables hostilités.

Rene Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main


Mittwoch, 12. Dezember 2012

[4]


Luire et s'élancer - prompt couteau, lente étoile.

Leuchten und emporschnellen - rasches Messer, langsamer Stern.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main



Dienstag, 11. Dezember 2012

[3]



Les oiseaux libres ne souffrent pas qu'on les regarde.
Demeurons obscurs, renonçons à nous, près d'eux.

Die freien Vögel dulden nicht, daß man sie ansieht.
Bleiben wir im Verborgenen, verleugnen wir uns, ihnen nah.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main

Désolé - petite fenêtre esquissée dans l'air -  
je ne peux guère cacher ce que je sens pour toi. 
L. 






Montag, 10. Dezember 2012

[2]


L'oiseau et l'arbre sont conjoints en nous. L'un va et vient, l'autre maugrée et pousse.



Das Miteinander von Vogel und Baum in unserem Innern. 
Kommen und Gehen des Einen, Unwillen und Wachstum des andern.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main




Sonntag, 9. Dezember 2012

[1]



Toute association de mots encourage son démenti, court le soupçon d'imposture. La tâche de la poésie, à travers son œil et sur la langue de son palais, est de faire disparaître cette aliénation en la prouvant dérisoire.



Eine jede Verknüpfung von Worten regt dazu an, sie Lügen zu strafen, eine jede setzt sich dem Verdacht der Vorspiegelung falscher Tatsachen aus. Es ist die Aufgabe der Dichtung, durch ihr Auge zu blicken und mit ihrer Zunge schmecken zu lassen, damit diese sich als nichtig erweisende Entfremdung in Nichts zerrinnt.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main




Samstag, 8. Dezember 2012

...en cours de route.

Eine echte Begegnung kann in einem einzigen Augenblick geschehen.

Anaïs Nin


Je flotte dans l'air.
Je désiderais que je serais libre. 

L.



Freitag, 7. Dezember 2012

L'ordre légitime est quelquefois inhumain / Die legitime Ordnung ist manchmal unmenschlich

















Ceux qui partagent leurs souvenirs,
La solitude les reprend, aussitôt fait silence.
L'herbe qui les frôle éclôt de leur fidélité.
Que disais-tu? Tu me parlais d'un amour si lointain
Qu'il rejoignait ton enfance.
Tant de stratagèmes s'emploient dans la mémoire!

Die ihre Erinnerungen teilen,
Umfängt wieder Einsamkeit, sobald sie schweigen.
Das Gras, das sie streift, entsprießt ihrer Treue.
Was sagtest du? Du sprachst mir von einer Liebe in solcher Ferne,
Daß sie mit deiner Kindheit wieder verschmolz.
So viele Winkelzüge benutzt man in der Erinnerung!

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main


Donnerstag, 6. Dezember 2012

Crayon du Prisonnier / Skizze des Gefangenen

Un amour dont la bouche est un bouquet de brumes,
Éclôt et disparaît.
Un chasseur va le suivre, un guetteur l'apprendra,
Et ils se haïront tous deux, ils se maudiront tous trois.
Il gèle dehore, la feuille passe à travers l'arbre.


Eine Liebe, deren Mund ein Nebelstrauß ist,
Blüht auf und schwindet.
Ein Jäger verfolgt sie, ein Späher wird sie erkennen,
Und sie werden sich hassen, alle beide, dann sich verfluchen, alle drei.
Draußen friert's, das Blatt sinkt herab durch den Baum.

René Char, Poésies - Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main





Mittwoch, 5. Dezember 2012

[Zeit]

So wie ihr Augen habt,
um das Licht zu sehen,
und Ohren, um Klänge zu hören,
so habt ihr ein Herz,
um damit die Zeit wahrzunehmen.
Und alle Zeit,
die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird,
ist verloren ..

Meister Hora in Momo

Michael Ende, Momo, Thienemann Verlag, 1973, Stuttgart 

 

Dienstag, 4. Dezember 2012

Gedanken in die Dezembernacht gejagt ...


.... dann wünsche ich dir alles Gute für die Englischprüfung. Es wird schon gut gehen. Und die Erde dreht sich auch diese Nacht :)
Was geschieht in Templin, was erzählt Dein Zimmer und in welcher Nische sitzt deine Freude und dein Kummer?

Das sind echte Fragen, die da zu Dir hereingeschneit kommen, sich aufs Fensterbrett setzen und warten, bis sie beim Hören der Antworten dahinschmelzen. Wohin schmilzt man eigentlich, wenn man dahinschmilzt?
Dahin, ja, aber wo ist das da - hin? Schon wieder eine Frage mit weißem Antwortblatt, eine Winterfrage also, weiß und scheinbar unschuldig kalt.

Ganz unschuldig schmilzt auch der Kalender dahin, obwohl die Tageblätter, die er abwirft wie ein müder Baum, alles andere als unschuldig waren.
Sie waren randvoll mit Alltag, Freude, Glück, Schmerz, Sorge, Trauer .... all diesen Dingen, die wir Gefühle nennen und die uns den Magen umkehren,
die Haut narben, die Haare zu Berge stellen oder unsere Hände zittern lassen ...
Sie sind vergangen, dahin, verflossene Zeit, sichtbar gemacht durch die erfolgreiche Schlankheitskur des Kalenders.
Die Zeit ist kein Kalender zum Abreißen, sie ist ein Fluss, eine Welle.
Man schwimmt mit ihr oder gegen sie, Zeit hat einen Rhythmus wie auch das Leben.

Das stetige Auf und Nieder der Wellen nimmt uns mit, Hochs und Tiefs auf dem Meer, in den Wellen, beim Wetter, im Leben.
Alles hat seine Zeit, sagt die Bibel. Und im Zeitlauf den rechten Zeitpunkt zu finden, das ist Glück und Lebenskunst zugleich.

Augenblick mal. Wie oft wird dieser Satz ganz unbedacht dahingesagt.

Dieser winzige Augenblick ist unsere Zeit, genauso unscheinbar wie einzig.
Wir meinen, in einem Meer von Zeit zu schwimmen und haben doch immer nur einen Tropfen Vorrat.
Wie gut und wie heilsam doch Täuschung sein kann. .

Manchmal ist gerade sie es, die uns so zuversichtlich macht.
Zuversichtlich leuchten nun die Adventskerzen in Richtung Weihnachten.
Adventszeit ist Vorfreude auf das Ankommen.
Advent ist wie Honigessen. Allerdings, obwohl Honigessen etwas sehr Gutes ist,
was man tun kann, gibt es doch noch einen Augenblick, kurz bevor man anfängt, den Honig zu essen,
der noch besser ist, als das Essen selbst... (alte nordschwedische Honigbärenweisheit)

In diesem Sinne, Luise.

Liebe Grüße und gute Zeiten für jeden Augenblick :)
Falls Du lieber gute Grüße und liebe Zeiten magst, auch die wünsche ich Dir.

H.
(4. Dezember 2008)




Montag, 3. Dezember 2012

drei tage

drei tage
habe ich nicht
mit dir gesprochen
welch eine ferne
dass ich selbst
den neumond vergesse
der als sichel
im schwarz schwebt
ein schwert über mir
gehalten von deiner
unsichtbaren hand
heute ist über mich
schon alles gesagt
das urteil ist längst
gesprochen

Benjamin Stein

Ist es das? Ist es?
Verneine es, es kann nicht sein.
Luise





Als wir zerfielen einst in DU und ICH
Und unsere Bette standen HIER und DORT
Ernannten wir ein unauffällig Wort
Das sollte heißen: ich berühre dich.

Es scheint: solch Redens Freude sei gering
Denn das Berühren selbst ist unersetzlich
Doch wenigstens wurd "sie" so unverletzlich
Und aufgespart wie ein gepfändet Ding.

Blieb zugeeignet und wurd doch entzogen
War nicht zu brauchen und war doch vorhanden
War wohl nicht da, doch wenigstens nicht fort

Und wenn um uns die fremden Leute standen
Gebrauchten wir geläufig dieses Wort
Und wußten gleich: wir waren uns gewogen.

Bertolt Brecht




Sonntag, 2. Dezember 2012

Turmsegler

Turmsegler mit den zu grossen Flügeln, der da kreist und schreit seine Freude rings um das Haus. 
So ist das Herz.

Er läßt den Donner verdorren. Er sät in den heiteren Himmel. Streift er den Boden, schlitzt er sich auf.

Sein Widerpart ist die Schwalbe. Er verabscheut die häusliche. Was gilt das schon: Filigran des Turms?

Er rastet in dunkelster Höhlung. Niemand hat es so eng wie er.

Im Sommer der langen Helle streicht er davon in die Finsternis durch die
Fensterläden der Mitternacht.

Kein Auge vermag ihn zu halten. Er schreit, das ist sein ganzes Dasein. 
Ein schmales Gewehr streckt ihn nieder. So ist das Herz.


René Char, Poésies – Dichtungen, S. Fischer Verlage, 1959, Frankfurt am Main





Überwältigend-wahr und nahe:

http://unertraeglich-leicht.blogspot.de/2012/09/was-ist-freiheit.html

Warmherzig empfohlen allen Literaturbegeisterten: 
http://turmsegler.net 




Samstag, 1. Dezember 2012

Wir fanden, aber wir hielten es nicht.


Wir fanden, aber wir hielten es nicht und versagten. Es nahm unsern Kopf in die Hände und küßte ihn. Lange war’s da. Doch immer vergeht, was wir haben, sowie wir es haben. Es flieht, um dann wirklich zu bleiben: als eines, das war. Bliebe es anders, verlör’s sich, sich duckend, im Alltag. Für niedrige Türen, Geliebte, ist Liebe zu groß und verrenkt sich, gedemütigt, rutscht, wenn wir sie schieben, auf Knien, verbeißt sich den Stolz. Und erträgt’s nicht.
Merkten wir nicht, was wir taten? Wie oft putzten wir Zähne gemeinsam, aßen so sprachlos zu Abend, die Aufmerksamkeiten erlascht, wie ein Echo ins Mehl klingt, dem schwarzen für Brot, das uns nährt, aber stumpf macht: das Brot stumpf, das Herz stumpf. So kauen wir. Stromrechnung, Miete, die tägliche Rücksicht, der Einkauf, beiseitegeschobne, als würden sie schänden, Verlangen. Die Zimmer zu schmale, wir spüren Verlust, aber schweigen ums Unheil. Denn sprächen wir’s aus, es wär ein Verrat, denkt man, der’s weckte und herlockt. Plötzlich, da stehn wir uns fremd da, uns selbst und als Fremde einander. Da gingst du.
Verlust ist des Bleibenden Anfang […]                                                                  
Alban Nikolai Herbst, "Das Bleibende Thier / Bamberger Elegien", Elfenbein, 2011, Berlin



Freitag, 30. November 2012

Arbeiten macht müde


Eine Straße überqueren, um fort von zu Hause zu laufen,
das tut nur ein Junge, aber dieser Mann, der den ganzen
Tag auf der Straße herumläuft, ist kein Junge mehr,
und er läuft nicht fort von zu Hause.

                                                                 Nachmittage gibt es
im Sommer, wenn selbst die Plätze leer sind, hingedehnt
unter der Sonne, die schon sinkt, und dieser Mann, der jetzt ankommt
auf der Allee mit den nutzlosen Bäumen, bleibt stehen.
Lohnt es sich denn, allein zu sein, daß man immer noch einsamer wird?
Wenn man nur so herumläuft, sind die Plätze und Straßen
leer. Man muß eine Frau anhalten,
mit ihr sprechen und sie bewegen, zusammen zu leben.
Sonst spricht man für sich allein. Deshalb zuweilen
die nächtliche Trunkenheit, die Gespräche anknüpft
und die Pläne des ganzen Lebens erzählt.


Gewiß nicht durch Warten auf dem verlassenen Platz
begegnet man jemand, doch wer durch die Straßen geht,
bleibt manchmal stehen. Wenn sie zu zweit wärn,
auch wenn sie durch die Straßen gingen, das Haus würde sein,
wo jene Frau ist, und dann lohnte es sich.


Cesare Pavese