... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Mittwoch, 31. Oktober 2012

Saint-Gilles

   Ein verlorenes Dorf? Eine verlorene Stadt? Am Rande der Camargue? Staubig, schlampig, einer jener Provinzorte, in denen Simenon einen grauenhaften, aber wohldurchdachten Mord stattfinden läßt. Pharmacie, Alimentation, Tabac, das Mahnmal von 1914-18 mit all den Namen, und darunter 1940-45, viel weniger Namen, aber noch immer die gleichen. Im Krieg zu fallen ging früher in Europa vom Vater auf den Sohn über.

Nein, hier fehlt nichts. Die alte Jungfer in Schwarz, die beim Roßschlächter hundert Gramm Herz für ihre Katze holt, der abgeblätterte Putz der Häuser, in denen unsichtbare Leben verrinnen, die Platanen, die vom Mistral jedes Jahr um eine unsichtbare Winzigkeit weiter zur Erde gebeugt werden, dort aber nie ankommen werden, weil vorher die Welt untergegangen ist, und das zu Recht.

Und mittendrin steht, unerwartet, einer jener Spiegel, die Menschen errichtet haben, um sich selbst zu erkennen, ein Theater aus Himmel und Hölle, Gut und Böse, die Fassade der Kirche von Saint-Gilles. Gute siebenhundert Jahre alt und noch immer gültig. Ich erinnere mich, daß ich auf sie zuging wie eine Katze aufs Fressen, fast nichts sehend, um einfach mittendrin anzufangen, und das war rechts vom Portal, über dem ein Christus ohne Gesicht das All im Triumph durchpflügt, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten: dem geflügelten Mann, dem Adler, dem Ochsen und dem Löwen. Bilderstürmer sind hier am Werk gewesen, doch mit Hilfe dessen, was man von der romanischen Kunst weiß, kann man sich die Gesichter und die Attribute dazudenken, und andererseits macht gerade ihr Fehlen dieses versteinerte Universum so unendlich geheimnisvoll.

[…]

Cees Nooteboom, Die Kunst des Reisens, Schirmer / Mosel Verlag, 2004, München

Dienstag, 30. Oktober 2012

Zwischen innen und außen

   Erst einige Sekunden, nachdem Arthur Daane an der Buchhandlung vorbeigegangen war, merkte er, daß sich ein Wort in seinen Gedanken festgehakt hatte und daß er dieses Wort inzwischen bereits in seine eigene Sprache übersetzt hatte, wodurch es sofort ungefährlicher klang als im Deutschen. Er überlegte, ob das durch die letzte Silbe kam. Nis*, Nische, ein merkwürdig kurzes Wort, nicht gemein und scharf wie manche anderen kurzen Wörter, sondern eher beruhigend. Etwas, in dem man sich verbergen konnte oder etwas Verborgenes fand. In anderen Sprachen gab es das nicht. Er versuchte, das Wort loszuwerden, indem er schneller ging, doch es gelang ihm nicht mehr, nicht in dieser Stadt, die davon durchtränkt war. Es hatte sich in ihm festgehakt. In letzter Zeit ging ihm das so mit Wörtern, insofern war Haken der richtige Ausdruck: Sie hakten sich in ihm fest. Und sie hatten einen Klang. Selbst wenn er sie nicht laut aussprach, hörte er sie, manchmal schien es sogar, als schallten sie. Sobald man sie aus der Reihe der Sätze löste, in die sie gehörten, bekamen sie, falls man dafür empfänglich war, etwas Angsterregendes, eine Fremdheit, über die man besser nicht zuviel nachdachte, da sonst die ganze Welt ins Wanken geriet.

*Nis ist im Niederländischen die Endsilbe von geschiedenis, zu deutsch Geschichte.

Cees Nooteboom, Allerseelen, Suhrkamp Taschenbuch, 1999, Frankfurt am Main

Montag, 29. Oktober 2012

Träume eines Nachmittags II


   Mittag, flimmernder Asphalt, eine lächerliche, einsame Pinie wie ein Regenschirm über dem eigenen Schatten. Im Autoradio die Tenebrae von Gesualdo, Schnee auf der Sierra Nevada, Hügel mit gefältelten Füßen, Felder voller kalkfarbener Steine. Huéscar, Castril, hoch über dem Dorf eine Heiligenfigur, man sieht die alljährliche Prozession vor sich. Ich kühle mir die Hände in einem Flüßchen und höre einen Vater rufen: "Laura, Laurita, vamos a comer", "komm zum Essen!", und dann will ich Laura, Laurita sein und ebenso achtjährig wie das Mädchen, das jetzt angelaufen kommt, und ich will in das kühle Haus gehen und mich an den Tisch setzen und die heißen Stunden des Nachmittags in einem Theater sich ineinanderschiebender Träume verschlafen, aber ich darf nicht schlafen und ich darf nicht träumen, ich drehe meine ewigen Runden in der sich ständig ändernden Landschaft, Tiscar, Quesada, Oliven, Oliven, Oliven, Kurven und Kurven, bis die Frau mit der Hacke auf der Schulter, die ich gerade noch unten sah, jetzt vor mir auf der Straße steht; wie eine Ziege ist sie den Hang hinaufgeklettert und hat so die lange Kurve abgeschnitten, und jetzt will sie mit und sitzt schweigend neben mir, das Gesicht hart und braun, scharfe Augen auf die Straße gerichtet, die Hacke noch immer auf der Schulter, einen Korb mit zugeknüpftem Tuch und einen Tonkrug zwischen den Füßen, für ihren Mann sei das, er ist schon den ganzen Tag da oben, sie bringt ihm immer zu essen, wenn sie unten fertig ist, und nachts bleibt er da, dann geht sie wieder zurück, es sind mehr als fünf Kilometer, wenn sie auf der Straße geht, aber manchmal klettert sie in direkter Linie nach oben, dann ist sie schneller, und als sie aussteigt, sehe ich den Mann in der Ferne stehen, gegen die Sonne sehe ich ihn, eine Zeichnung voll ausgelaufener Tinte, die Form eines Mannes zwischen den Formen von Schafen.

Cees Nooteboom, Die Kunst des Reisens, Schirmer / Mosel Verlag, 2004, München

Sonntag, 28. Oktober 2012

[Vent]


Draußen war aus dem Wind Sturm geworden. Einen Moment lang dachte er, er könnte fliegen. Wie das wohl wäre? An all den hohen, mächtigen Häusern vorbei, nicht wie ein Vogel, sondern wie ein willenloser Gegenstand, ein Stück Papier, aufgenommen in das große Wehen, in das blasende, wirbelnde Geräusch, aller Worte dieses Abends ledig, zurück zu der früheren, so seltsamen und stillen Stunde, da jemand plötzlich vor ihm gestanden hatte in der Stille seines Zimmers, jemand, der ihn, dachte er jetzt, überwältigt hatte, der aber auch durch seine Vergangenheit gejagt und gestürmt war wie ein Orkan. Konnte das sein? In der kurzen Zeit? War jetzt etwas anderes angebrochen? An der Ecke Leibnizstraße konnte er sich kau auf den Beinen halten. Dieser Wind kam von der Ostsee oder von der Steppe irgendwo weit im Osten, von Ebenen, in denen man spurlos verschwinden konnte. Der Wind hatte alle Zweige in Peitschen verwandelt, die gegeneinander schlugen und dabei vor Schmerz wimmerten. Dieses Geräusch würde er noch die ganze Nacht hören.


Cees Nooteboom, Allerseelen, Suhrkamp Verlag, 1999, Frankfurt am Main


Samstag, 27. Oktober 2012

Von Lorca nach Úbeda / Träume eines Nachmittags I


    Kalkiger, versteinerter Boden, eingestürzte Schuppen aus Lehm, Felder mit gebleichten Weizenstoppeln, zerklüftete Berge in der Ferne, Stunden, in denen man kaum jemand sieht, wenn man anhält, hört man die Stille rauschen. Wage es keiner, von Eintönigkeit zu sprechen, denn noch am selben Tag sieht man Bahnen aus purem Gold, die sich bis zum Horizont erstrecken, sieht man, wie Stiere sich an sumpfigen Ufern suhlen, sieht Oasen mit kleinen Gehöften, die so weiß gekalkt sind, daß man ohne Sonnenbrille nicht hinschauen kann, der Weg, den man fahren muß, besteht aus närrischen Schlenkern zwischen Hunderttausenden vo Olivenbäumen, der Traum eines Verrückten, wenn man hier lange genug fährt, ist man dankbar für ein Getreidefeld oder eine einzelne Pappel. Wer hier lebt, muß diesen Landschaften so verlfallen sein wie der Seemann dem Meer, nach Stunden kann man es fast nicht mehr aushalten, die Hitze verstärkt die Ekstase noch, Disteln benehmen sich wie Orchideen, und gerade, als man glaubt, das Auge könne soviel Leere nicht mehr ertragen, passiert es: Der Weg, dem man, links und rechts begleitet von festungsartigen Tafelbergen, stundenlang gefolgt ist, macht eine schwache Biegung, die Landschaft verändert sich, der Weg senkt sich zu etwas hinab, das ein Tal sein muß, dessen Fluß jedoch tief versteckt oder eingetrocknet ist. Die Augen schmerzen bereits seit Stunden vom Licht, der Boden, dessen Farben man nicht mehr benennen kann, weil man es schon zu oft versucht hat, der aber jedenfalls die Farbe von Erde hat, weil die Verlockung anderer, wollüstigerer Farben durch die Art des Ortes oder der Jahreszeit entfallen ist, scheint nach allen Richtungen hin weiterzugehen, soweit das Auge reicht. Und dann, erst noch wie eine Form der Landschaft selbst, dann wie ein vorzeitliches großes, totes Ding, liegt irgendwo auf einem Hügel oder an einer Bergwand, getarnt mit den Farben der Gesteinsart ringsum, eine Burg, ein Kastell, ein Fort, geöffnet von Wind und Zeit, kahl, ausgehöhlt, oder verschlossen, ohne Zähne und Augen, so undurchdringlich wie das Gesicht eines Toten. Sie sind zu groß für unser Maß, in ihrem Umkreis ist kein oder fast kein Leben, das sie rechtfertigt, es sind Relikte aus einer Zeit, in der die Menschen viel größer gewesen sein müssen, aber das waren sie nicht.

Cees Nooteboom, Die Kunst des Reisens, Schirmer / Mosel Verlag, 2004, München

Freitag, 26. Oktober 2012

[Unberechenbar]

Gleichwie du nicht weißt, welchen Weg der Wind nimmt...

Cees Nooteboom, Allerseelen, Suhrkamp Verlag, 1999, Frankfurt am Main

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Weg

Ich bin der Weg.

Ich ziele wie ein Pfeil
auf die Ferne,
aber in der Ferne
bin ich
weg.

Wenn du mir folgst,
hierher, dorthin, hierher,
findest du ihn,
wie auch immer.

Weg ist weg.

Cees Nooteboom, Die Kunst des Reisens, Schirmer / Mosel Verlag, 2004, München

Mittwoch, 24. Oktober 2012

DIE STERNE WAREN SCHON LÄNGST VERGRIFFEN


Zum Beispiel wer außer dir,
wer käme darauf,

den Mond
in dieses Zimmer zu falten

und seine Füße
daneben zu stellen

und dieses Bild
zu einsam zu finden

und deshalb
lieber ein Foto zu machen

von etwas
ganz anderem.


Lydia Daher, Insgesamt so, diese Welt, Verlag Voland und Quist, 2012

Dienstag, 23. Oktober 2012

Zeit und Photographien

   Am Photographieren liebte Alice den Vorgang mehr als das Resultat. Sie liebte es, die Kamera zu öffnen und den neuen Film einzulegen, ihn gerade so weit aus der Kapsel zu ziehen, dass die Perforation in der Führung einrasten konnte, und sich vorzustellen, dass dieser leere Film bald schon etwas aufnehmen würde, aber nicht zu wissen, was, ein paarmal auszulösen, um den Film zu transportieren, sich ein Objekt vorzunehmen, scharf zu stellen, mit dem Oberkörper vor- und zurück gehen und nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, ob bestimmte Teile der Realität dazugehören oder ausgeschlossen sein sollten, vergrößert oder verzerrt.

Immer wenn sie das Klicken des Auslösers hörte, gefolgt von einem leichten Rascheln, musste sie daran denken, wie sie als kleines Mädchen im Garten ihres Ferienhauses in den Bergen Heuschrecken gefangen und in den zum Kelch zusammengelegten Händen festgehalten hatte. Sie dachte, dass es beim Photographieren genauso war, dass sie die Zeit einfing und auf Zelluloid festhielt, sie auf dem Sprung zum nächsten Augenblick erwischte.

Paolo Giordano, Die Einsamkeit der Primzahlen, Heyne Verlag, 2011, München




Montag, 22. Oktober 2012

Worte sind die Verringerung aller Dinge


Die kleinen Geheimnisse sind immer noch hier,
                                                     und das Licht ist zurückgekehrt.
Das Wort erinnern berührt meine Hand,
aber ich schüttle es ab und beobachte wie Hühnergeier sich
gegen den bedeckten Himmel werfen.
Die kleinen Namen sinken alle hinab
                                                         gegen ein Unsichtbares,
Doch niemand wird sie aussprechen, niemand ihr zerwühltes Haar glätten.

Viel Zeit ist auf jeden Fall nicht.
Viel bleibt nicht zu bereden
                                            im schwindenden Jahr.
Viel ist nicht hinzuzufügen.
Straßenschäbig, dezemberfarben kommen sie zusammen wie unattraktive Engel
wo immer ein Ding erscheint,
neu und unausgesprochen, unaussprechlich
                                                      in ihrem stummen, funkelnden Gewand.

Den ganzen Nachmittag haben sich Wolken vom Blue Ridge
                                                                                       auf uns zu bewegt.
Den ganzen Nachmittag sind Blätterkrallen klappernd und
klickend über Bürgersteig und Straße gekrochen.
Und nun ist der Abend über uns,
dünne Scheiben Stille
                                  laufen unter einem dunklen Regen,
der eingewickelt ist in einen größeren.

Charles Wright

Sonntag, 21. Oktober 2012

[Ruptures et promenades pas encore finies]

   Er ging in Richtung Schillerstraße. Es gab nur zwei Städte, die einen so zum Laufen herausforderten, Paris und Berlin. Das stimmte natürlich auch wieder nicht. Er war sein ganzes Leben lang überall viel zu Fuß gegangen, doch hier war es anders. Er fragte sich, ob das durch den Bruch kam, der durch beide Städte lief, wodurch das Zufußgehen den Charakter einer Reise, einer Pilgerfahrt bekam. Bei der Seine wurde dieser Bruch durch Brücken gemildert, und dennoch wußte man immer, daß man irgendwo anders hinging, daß eine Grenze überschritten wurde, so daß man, wie so viele Pariser, auf seiner Seite des Flusses blieb, wenn keine Notwendigkeit bestand, das eigene Territorium zu verlassen. In Berlin war das anders. Diese Stadt hatte mal einen Schlaganfall erlitten, und die Folgen waren noch immer sichtbar. Wer von der einen Seite in die andere ging, durchquerte einen merkwürdigen Riktus, eine Narbe, die noch lange zu sehen sein würde. Hier war das trennende Element nicht das Wasser, sondern jene unvollständige Form der Geschichte, die Politik genannt wird, wenn die Farbe noch nicht ganz trocken ist. Wer dafür empfänglich war, konnte den Bruch fast körperlich spüren.

Cees Nooteboom, Allerseelen, suhrkamp taschenbuch, 1999, Frankfurt am Main

Samstag, 20. Oktober 2012

Tja. Relativität...

Wenn man mit einem netten Mädel
zwei Stunden zusammen ist, hat man
das Gefühl, es seien zwei Minuten;
wenn man zwei Minuten auf einem
heißen Ofen sitzt, hat man das Gefühl,
es seien zwei Stunden.

Das ist Relativität.

Albert Einstein


Freitag, 19. Oktober 2012

[...]

Wie Andere uns um Worte reicher machen - heute wurde mir das Wort Heimatsucht geschenkt;
gebildet aus Heimat und Sehnsucht. Zu ehrlich für einen Freud'schen Versprecher,
ganz gleich, wie man Heimat auch definieren mag.

Luise - und ein stilles Danke an Necmettin,
dem ich dieses Wort zu verdanken habe.
Teşekkür ederim!




Donnerstag, 18. Oktober 2012

Wer es könnte

Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
dass der Wind
hindurchfährt.

Hilde Domin

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Verwandlung, ungeahnter Natur.

   Schläfst du? Ich hab dich noch bei mir. Du bist Feuer und ich bin Holz. Bin nach Hause gekommen, es war feucht und das Holz ist jetzt weniger entzündlich. - Hab eine stille Melancholie und etwas klareren Gedanken heimgebracht. Jetzt lege ich mich hin, schließe die Augen: Es wird sich so anfühlen, als würde ich auf deine nächste Überraschung warten... Vielleicht mache ich sie erst im Traum wieder auf und du bist da... Auch durch Träume klären sich die Gedanken... gute Nacht! 

Wiedergefundene Post an  Luise


Um ein tadelloses Mitglied einer 
Schafherde sein zu können, muss
man vor allem ein Schaf sein.
Albert Einstein

Dienstag, 16. Oktober 2012

vorrat

der schnee beginnt in den augen,
wenn der wind das licht
laut aus den pappeln treibt.
du mußt dich entscheiden,
wenn dich dein schatten verläßt,
welche wege du aufstellst
fürs gehen. das zimmer erkaltet
unter geräuschen des schnees.
es klopft an der tür. du öffnest das holz.
es ist die alte geschichte.
jemand erkennt dich
und erzählt dir, was war.
du trocknest die worte und hoffst,
daß sie halten. doch noch ist es
september. du verteilst
deine schatten nach ihren gewichten,
fällst leicht durch die worte,
die leiser werden, verstummen,
wenn du sie aufschlägst
auf seiten des schnees.

andreas altmann

Montag, 15. Oktober 2012

groß und still

knietief ragen brückenpfeiler aus dem boden,
durch gestrüpp und junge bäume getrennt.

ihnen wurde die zeit abgenommen. einen ruf
weit stellt sich das haus seiner leere.

der april hängt grüne tücher ins holz.
zwölf tauben, als ich ihnen zu nahe komm,

steigen mit schweren flügeln durch die zweige.
einige brechen. leg zwei federn ins grab,

damit die seele sie trägt, las ich in deinem an
gefangenen brief. solche worte kannten

dein schweigen. wieder hatten sie einen weg
in die breite gezogen. das feuer dafür brannte

wochen. die augen. das haar. deine hand.
ich fühl noch wie sie in meiner liegt, groß

und still, wenn ich dich anseh.

Andreas Altmann

Sonntag, 14. Oktober 2012

Errare

Ich dachte, es wäre ein Weg. Ein glücklicher, schlichter und schöner.
Es war eine Kreuzung. Und das Glück eben in die entgegengesetzte Richtung verschwunden.

Luise

Samstag, 13. Oktober 2012

ontologie

wie die tür sich hinter ihm schließt
wenn er sie zuzieht die tür hinter sich
läßt wie sie sich vor meinen augen
schließt hell und gefächert aber
weiß die tür was sie ist
wenn sie sich öffnet oder schließt -
wie er sie hinter sich zuzog
nicht mehr zurückzukehren (wie früher)
“später“ erst sagte er „bis später“
doch nicht mehr an diesem tag wie
der tag ins schloß fiel als er ihn hinter
sich zuzog weich und leise
die quadratische fächerung weiß
die tür was sie tut
wenn sie sich schließt sich öffnet
hinter ihm
die quadratischen stauden der zeit
die treibenden feuerbüschel des raums

anarch der kautschuk des herzens
 
 Ulrike Draesner

Freitag, 12. Oktober 2012

o.T.

allegorie eines kalenderblattes: dein hingekauerter körper,
ein ohr gegen die schwelle gedrückt. lächerlich einprägsam.
nur der atem gefriert. ich sage: lass unsere arme segel sein,
die an die wolken stoßen. wer zuerst wegsieht, verliert.
versprechen fahren über die dunkelheit. eine weile gehen wir so
nebeneinander her. zwei seltsam gefaltete ozeane,
aus denen der nebel tröpfchen leckt.

Daniela Seel

Donnerstag, 11. Oktober 2012

MATUTIN [I]

womit beginnen · dem vor dem fenster auf stirnfronten
fassaden und straßenfluchten verfallenden himmel
ein weißaschener rand über häuserzeilen
die sich in diesem nachtlangen dämmern aneinanderreihen
zu dem schlaflosen das sein ewiges ansonsten

daraus abliest ungeduldig und aus dem augenwinkel
überspringend satz für satz · oder bei dir
sacht ja beinah zögernd mit hand und mund den silhouetten
des körpers nachtastend blind von dir als ginge
die nacht um das bett herum einmal zweimal und sinke

zu auf dich · ein schatten der an deiner schulter sich verliert
um dich von deiner nacktheit abzusetzen
als dem unvollständigsten an dir · nein du schaust
noch im dunkeln ich weiß du mit deinen dunklen lidern
den griechisch großen augen und dein nacken

zurückgeworfen in dieser vor all dem wachen
zu kopf gestiegnen müdigkeit ihrem magren fiebern
mit offenen lippen wie um etwas auszusprechen das als laut
innen in der kehle bleibt · ich kann dich dabei nur halten
bis es nachgibt · und wo ich dich berühre

ist da der fahle glanz der haut · im zimmer
der tisch ein spiegel und licht das zwei finger
weit wie über leeren bögen liegt in denen nun die frühe
ihre stelle findet · das leben und das sterben hatten
darauf jäh raum indem sie einander dann umfassen konnten

berlin 6 3 II
 
Raoul Schrott

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Im Schweben - Aiborne

Der Pilot sagt uns
wir sind zum Take-off bereit.
Zeit, Abschied zu nehmen von den Bergen,
dem See mit seinen vielen Säumen
und Freunden, die uns noch gestern küssten.

Erinnerung verliert sich
im Straßengewirr
übermäßig besuchter Städte.
Eben vergeht sie in Wolkenfetzen.

Alle Reisen sind zweischneidig,
alle Landungen, weich oder rüttelnd,
tragen einen Zug von Angst.

Gott weiß wohin wir als nächstes fliegen –
wir setzen auf etwas Ruhiges und Nettes:
wo Schafe friedlich grasen können
und Bäume rezitieren Poesie.



The Pilot tells us
we are ready for take-off.
Farewell to the mountains,
the lake with its many borders
and friends who kissed us yesterday.

Memory loses its way
in the crowded streets
of towns visited too often.
Now it fades in swirls of cloud.

All journeys are double-edged –
all landings, whether smooth or bumpy,
hold an element of fear.

God knows where we’ll fly to next,
we hope somewhere calm and pleasant
where sheep may safely graze
and trees recite poetry.
 
Anne Bereford
 

Dienstag, 9. Oktober 2012

hühnergötter

an genau dieser stelle versickert das glück. zu retten
bleibt nur, was aufgeführt ist im inhaltsverzeichnis der see,
der halde versandeter wälder: hühnergötter zu finden bringt
glück!! hühner zu finden nicht, tote vögel zu finden nicht, löcher
zu finden schon, nicht neue GÖTTER zu suchen. lediglich hühner
götter zu finden, auch bernstein, blutproben alter bäume, nur
die einschlüsse guter, surrender träume niemals zu finden.
im schlick nie mehr kronen, echsen, nie ein stück wind.

Ulrike Almut Sandig, Streumen, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, 2007, Leipzig

Montag, 8. Oktober 2012

Ich bedenke die Welt


    Ich bedenke die Welt, Ausgabe zwei,
    Ausgabe zwei, verbessert,
    den Idioten zum Spott,
    den Grüblern zum Heulen,
    den Kahlen für den Kamm,
    den Hunden für die Katz.

    Kapitel eins:
    Die Sprache der Pflanzen und Tiere,
    wo wir für jede Gattung
    entsprechenden Wortschatz führen.
    Sogar das einfache Guten Tag,
    gewechselt mit einem Fisch,
    stärkt uns, den Fisch und alle
    im Leben.

    Dieser längst geahnte,
    plötzlich in der Wirklichkeit der Wörter
    improvisierte Wald!
    Diese Epik der Eulen!
    Diese Aphorismen eines Igels,
    ersonnen, wenn
    wir überzeugt sind,
    daß er pennt.

    Die Zeit (Kapitel zwei)
    hat das Recht, sich einzumischen
    in alles, ob gut oder böse.
    Aber jene - die Berge zerbricht,
    Ozeane versetzt, das Sternenlicht
    kreisend begleitet,
    hat nicht die geringste Gewalt
    über das Liebespaar, das allzu unbekleidet,
    weil allzu umarmt, mit gesträubter
    Seele, wie mit einem Spatzen auf Schulter.

    Das Alter ist nur die Moral
    im Leben eines Kriminellen.
    Ach, jung sind doch alle Braven.
    Das Leid (Kapitel drei)
    kann unseren Körper nicht entstellen.
    Der Tod kommt, wenn wir schlafen.

    Und träumen werden wir,
    daß Stille ohne Atem
    keine schlechte Musik ist;
    wir sind klein wie ein Funke und nackt
    und erlöschen im Takt.

    Nur so ist der Tod. Wer
    eine Rose in der Hand hält, leidet mehr,
    und größeres Entsetzen empfand,
    wer sah, daß das Blatt fiel in den Sand.

    Nur so ist die Welt. Nur so, denk einmal nach,
    leben wir. Und sterben nur soviel.
    Alles andere ist---wie Bach,
    vorübergehend gespielt
    auf einer Säge.
          Wisława Szymborska


Sonntag, 7. Oktober 2012

[...]

Nur wer für den Augenblick lebt,
lebt für die Zukunft.

Friedrich Schiller

Samstag, 6. Oktober 2012

alltägliche fragen


dass wir alle aus dem wasser kommen
und wasser sind
und wieder wasser werden
oder nur darüber verstreut?
asche in dinkelbrot
letzter proviant?

dass wir staub sind
sternenstaub und daher kommen
und wieder werden wollen
verbrannt und ausgestreut aus einem heißluftballon
dass wir staub wischen
und selber sind?

sind teil des ganzen
warum hören wir dann das lied des kuckucks
und zählen mit ihm?
woher weiß er, der in fremden nestern wuchs
wer seine brüder sind?
mit wem er schnäbeln wird
alles staub, wasser, DNA?

der kuckuck ruft
nach seinesgleichen
die er nicht kennt
also kehren wir doch nicht zurück
ins paradies
sind auf sehnsucht gepeilt
auf kuckucksruf
und länder der sterne

dorthin wo wir nicht sind
noch darüber wissen
ins offene all

Eva Christina Zeller, Liebe und andere Reisen, Klöpfer und Meyer, 2007, Tübingen

Freitag, 5. Oktober 2012

Heimelig.

Drei Tage Ruhe vor mir. Kiefernnadeln-Harken im Garten bei wolkigem Himmel, Herbst-Geruch in der Nase. Was für eine Erleichterung – wie einfach die Dinge hier wieder sind. Einfach-schön, wieder zu Hause Kind zu sein, sorglos und frei. Die noch unbezahlte Miete in meiner neuen Stadt, der noch leere Kühlschrank? Ganz gleich, es werden sich Lösungen finden lassen. Erst einmal – Laub harken, Bahn um Bahn. Einfach und schlicht. Und doch – welch atemloses blindes Spiel. Danke, Rilke. Mögest du dich bitte nicht in deinem Raroneser Grab umdrehen.
Noch eine Reihe und noch eine. Beruhigend.
Hardy kommt mir in den Sinn. Hardy, dessen gute, aber verschmitzte Frage „Wann muss ich nicht mehr Rasenmähen, um zu Hause willkommen zu sein?“ ich seinerzeit nur mit einem Lächeln bedacht hatte. An Hardy: Nie. Immer wieder werden wir aus dem Zug steigen, umarmt und dann mit einem Rasenmäher oder einer Harke versehen werden. Und genau das wird Zuhause bleiben; einige Tage in einer gewissen Rasenmäher-Sorglosigkeit.
Es wird dunkel. Ein vertrauter Ruf aus der Küche: Kommt doch endlich, der Salat ist fertig!
Und zum Abendbrot Deep Purple. Alles wie immer. Wie gut.

[5. Oktober 2012] Luise

Donnerstag, 4. Oktober 2012

landrückwärts

an der Reibefläche deiner Fußsohle bleibt
mein Lachen im Vorübergehen hängen
auf einem langen Spaziergang hast du
sämtliche Deiche meiner Binnenmeere
geöffnet die ausgedorrten Ufer überflutet
deine Trompetenstimme ankert in meinem
Bauch im August legst du Sonnen
auch Blumen über meine Brust bunt
sind die kleinen Schwalben die aus deinen
Augen herabflattern in meinen Mund
mich zu füttern wenn der Fluß nicht mehr
voll steht sammle ich all die Spelzen

landrückwärts

Maren Ruben

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Hackescher Markt im Februar

Das Sonnenlicht in der leeren Zeit
Die Passanten in der leeren Zeit
Die Stadt und ihre Geldtransporte in der leeren Zeit

Die leere Zeit ist ein Komplex
Große Sichtbarkeit des Nichts
Der Mensch als ein Sekretär

Von kosmischer Weite keine Spur
Wir zögern – und gehen hindurch
Wir sind Du, und wir sind Ich

Wir sind die Wintersonnenbrille
Auf der Nase eines imaginären Igels
Wir sind Musik, die klagt

Grandioser Asphalt, der Schritte zensiert
Der spitze Frost treibt unser Herz in die Höhe
Dorthin, wo es überleben kann

Joachim Zünder

Dienstag, 2. Oktober 2012

Ins Innere der Insel

Nun endlich los! Das Lärmen der Zikaden
hat mir schon manchen Morgen wund gerieben.
Wie leicht, so durch die Sommerflut zu waten,
den Weg hinauf, wie sonnenklar die Strahlen.
Das Grün wird Staub und vor mir her getrieben.

Die nackten Füße zeichnen meine Spur in Bast.
Bald wird die Hitze in der Mittagsstille toben.
Die Ode summt im Kabel über mir vom Mast.
Die Bienen tanzen summend um die Quelle oben.
Tief draußen flattern Wellen, fernhin angehoben. 

Jürgen Theobaldy 
 

Montag, 1. Oktober 2012

DAS GRAS IST GEMÄHT.

DAS GRAS IST GEMÄHT. eine bank lehnt am baum.
er ist ausgetrocknet. das klopfen des spechtes
an der grenze zur nacht, klingt schüssen ähnlich,
die ihre erinnerung verfehlen. unter den flügen
des fischreihers, der jeden abend den gleichen bogen
über das haus spannt, bewegt sich das land. es ist
still in den geräuschen der grillen und wind
umhänge, die von den ästen gleiten. hier hörst du
das schweigen, das dir die tür öffnet. die südlichen
störche haben ihre nester dem himmel überlassen.
auf dem haff schlüpfen die mücken. zwei ältere
frauen stehen bis zu den knieen im wasser. aus
ihren händen gleitet das licht, sinkt auf den grund.

Andreas Altmann

Aus: Gemälde mit Fischreiher. LyrikHeft der Sonnenberg-Presse, 2008

AUßERORDENTLICH

Außerordentlich, außerhalb der Ordnung.
Bildersturm!

Ein Monat lang keine Bilder oder Photographien. Und keine Musik.
Nur Worte, schlicht, kunstvoll und verzaubernd aneinandergereiht.
Literatur in Reinform.
Viel Freude beim Genuss des eigenen Kopfkinos!

Eure Luise

 
 
Exceptionnellement, hors de règlement.
Iconoclasme!
 
Au long d'un mois, pas d'images ni photographies. Et pas de musique.
Seulement des mots, enfilés simplement, artistiquement et ensorcelants.
Littérature pure et simple.
Beaucoup de joie en savourant les fruits de la propre imagination!
 
Votre Luise