Früher war alles ganz anders gewesen. Keiner konnte sich jetzt vorstellen, keiner wußte oder ahnte auch nur, daß die Welt ganz anders aussehen könnte, hätte es vor Urzeiten nicht die Ente Luwr gegeben. Dann stünden nicht Festland gegen Wasser, Wasser gegen Land. Denn am Anfang, am Urbeginn, gab es keine Erde in der Natur - nicht einmal ein Staubkörnchen. Ringsum breitete sich Wasser, nichts als Wasser. Das Wasser war aus sich selbst entstanden, in seinem ewigen Wandelkreis - in schwarzen Abgründen, tiefen Strudeln. Wogen um Wogen rollten da, rollten auseinander, nach allen Richtungen der damals richtungslosen Welt: aus dem Nichts ins Nichts.
Die Ente Luwr aber - ganz recht, die gewöhnliche breitschnäblige Wildente, die bis zum heutigen Tag in Schwärmen zu unseren Häuptern dahinfliegt - irrte dazumal mutterseelenallein über der Welt herum, und nirgends konnte sie ihr Ei ablegen. Weit und breit war nur Wasser - nicht einmal Schilfrohr fand sich, um ein Nest zu flechten.
Die Ente Luwr schrie in der Luft, sie fürchtete, das Ei nicht länger halten zu können, es über dem bodenlosen Abgrund zu verlieren. Wohin sie sich auch wandte, wo immer sie suchte - überall plätscherten unter ihren Flügeln Wellen, erstreckte sich das Große Wasser - Wasser ohne Grenzen, ohne Anfang und ohne Ende.
Völlig entkräftet erkannte sie schließlich: Auf der weiten Welt gab es keinen Ort, wo sie ein Nest bauen konnte.
Da ließ sich die Ente Luwr auf dem Wasser nieder, zupfte sich Federn aus der Brust und flocht ein Nest. Und aus diesem schwimmenden Nest wuchs die Erde. Nach und nach weitete sich die Erde, wurde sie von mancherlei Geschöpfen bevölkert. Der Mensch aber tat sich unter allen hervor - er lernte, auf Skiern über Schnee zu laufen, im Boot auf dem Wasser zu fahren. Er begann, Wild zu erlegen und Fische zu fangen, nährte sich so und mehrte sein Geschlecht.
Hätte die Ente Luwr nur geahnt, wie hart das Dasein wurde mit der Entstehung des festen Landes inmitten des Wasserreichs! Kann sich doch, seit es die Erde gibt, das Meer nicht beruhigen; das Meer kämpft gegen das Land und das Land gegen das Meer. Der Mensch aber hat es zuweilen bitter schwer zwischen Land und See, zwischen See und Land. Das Meer liebt ihn nicht, denn er ist mehr der Erde verhaftet...
Der Morgen zog herauf. Wieder ging eine Nacht zu Ende, wieder wurde ein Tag geboren.
Tschingis Aitmatow, Der Junge und das Meer, Goldmann Verlag, 1978, München