... salut de nouveau
Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.
Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,
und du läufst mir jauchzend entgegen.
...
Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!
Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.
Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,
und du läufst mir jauchzend entgegen.
...
Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!
Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)
Sonntag, 30. April 2017
Samstag, 29. April 2017
Freitag, 28. April 2017
Hundert Freuden
Es gelüstete ihn nach Glück,
es gelüstete ihn nach Wahrheit,
es gelüstete ihn nach Ewigkeit,
da schaut her!
Kaum unterschied er Traum von Wirklichkeit,
kaum kam er dahinter, er sei doch er,
kaum hatte er mit der Hand, der Herkunft nach Flosse,
den Feuerstein und die Rakete geschnitzt,
er, in einem Löffel Ozean leicht zu ertränken,
zu wenig komisch sogar, um die Leere lachen zu machen,
der nur mit den Augen sieht,
der nur mit den Ohren hört;
seiner Rede Rekord ist der Konditionalis,
er tadelt mit dem Verstand den Verstand,
mit einem Wort: fast niemand,
aber er hatte sich die Freiheit, das Allwissen und das Sein in den Kopf gesetzt
jenseits des unklugen Fleisches,
da schaut her!
Denn vorhanden ist er wohl,
er kam in Wahrheit vor
auf einem der provinziellen Sterne.
Auf seine Art vital und ziemlich rührig.
Als eine mickrige Mißgeburt des Kristalls -
recht ernst erstaunt.
Als einer mit schwieriger Kindheit in den Zwängen der Herde -
schon gar nicht so übel einzeln.
Da schaut her!
Nur weiter so, weiter und sei es für einen Moment,
ein kurzes Aufblitzen einer kleinen Galaxis!
Es zeige sich endlich im großen und ganzen,
was er sein wird, da er ist.
Und er ist - verbissen.
Verbissen, zugegeben, sehr.
Mit diesem Ring in der Nase, in dieser Toga, in diesem Pullover.
Hundert Freuden, komme was wolle.
Armes Ding.
Leibhaftiger Mensch.
Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Deshalb leben wir, Suhrkamp, 1980, Frankfurt am Main
Donnerstag, 27. April 2017
Mittwoch, 26. April 2017
Hasret - Sehnsucht
Ein wunderschöner, poetischer, abgedrehter, stiller und berührender Film
über die Schönheit des langsam untergehenden alten Istanbuls -
ein Film über Katzen, Möwen, Geister und unerfüllte Liebe.
Ein kleines, funkelndes, filmisches Juwel.
Dienstag, 25. April 2017
Montag, 24. April 2017
Sonntag, 23. April 2017
Samstag, 22. April 2017
Entdeckung
Ich glaube an die große Entdeckung.
Ich glaube an den Menschen, der die große Entdeckung macht.
Ich glaube an die Angst des Menschen, der die große Entdeckung macht.
Ich glaube an die Blässe seines Gesichts,
an seinen Brechreiz, den kalten Schweiß auf der Lippe.
Ich glaube an das Verbrennen der Niederschriften,
an ihr Verbrennen zu Asche,
zur letzten.
Ich glaube an das Verschütten der Zahlen,
ihr reueloses Verschütten.
Ich glaube an die Eile des Menschen,
an die Genauigkeit seiner Bewegung,
an seinen unbezwungenen Willen.
Ich glaube an das Zerschlagen der Tafeln,
an das Vergießen der Flüssigkeiten,
an das Verlöschen der Flamme.
Ich meine, daß es gelingen wird,
und daß es dann nicht zu spät sein wird,
und daß sich die Sache ganz ohne Zeugen abspiele wird.
Niemand wird es erfahren, ich bin dessen sicher,
weder die Ehefrau noch die Wand,
auch nicht der Vogel, er könnte es sonst verpfeifen.
Ich glaube an die lässige Hand,
ich glaube an die verpfuschte Karriere,
ich glaube an die vertane Arbeit vieler Jahre,
ich glaube an das ins Grab genommene Geheimnis.
Mir kreisen diese Worte über den Regeln.
Sie suchen keine Stütze bei den Exempeln.
Mein Glaube ist fest, blind und ohne Begründung.
Wisława Szymborska / Juli 1970
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Ich glaube an den Menschen, der die große Entdeckung macht.
Ich glaube an die Angst des Menschen, der die große Entdeckung macht.
Ich glaube an die Blässe seines Gesichts,
an seinen Brechreiz, den kalten Schweiß auf der Lippe.
Ich glaube an das Verbrennen der Niederschriften,
an ihr Verbrennen zu Asche,
zur letzten.
Ich glaube an das Verschütten der Zahlen,
ihr reueloses Verschütten.
Ich glaube an die Eile des Menschen,
an die Genauigkeit seiner Bewegung,
an seinen unbezwungenen Willen.
Ich glaube an das Zerschlagen der Tafeln,
an das Vergießen der Flüssigkeiten,
an das Verlöschen der Flamme.
Ich meine, daß es gelingen wird,
und daß es dann nicht zu spät sein wird,
und daß sich die Sache ganz ohne Zeugen abspiele wird.
Niemand wird es erfahren, ich bin dessen sicher,
weder die Ehefrau noch die Wand,
auch nicht der Vogel, er könnte es sonst verpfeifen.
Ich glaube an die lässige Hand,
ich glaube an die verpfuschte Karriere,
ich glaube an die vertane Arbeit vieler Jahre,
ich glaube an das ins Grab genommene Geheimnis.
Mir kreisen diese Worte über den Regeln.
Sie suchen keine Stütze bei den Exempeln.
Mein Glaube ist fest, blind und ohne Begründung.
Wisława Szymborska / Juli 1970
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Freitag, 21. April 2017
Exercice de stèle - Stelenübung
tchaïkovski
est mort du choléra
walter scott de la poliomyélite
napoléon d’un carcinome de l’estomac
baudelaire de la syphilis
gambetta d’une péritonite
hemingway se mit du plomb dans la tête
alphonse allais se noya dans l’absinthe
zweig dans un réchaud à gaz
raymond roussel tétanisé par les barbituriques
nerval asphyxié par une petite musique de chanvre
rimbaud d’une tumeur au genou
faulkner d’une chute de cheval
gogol affamé par un moine
jean follain renversé par un chauffard
camus écrabouillé contre un platane
henri calet lors d’une étreinte amoureuse
virginia woolf au fond d’une rivière
chénier la tête décollée
apollinaire terrassé par la grippe espagnole
nicolas de staël aimanté par une fenêtre
boris vian victime d’un cœur capricieux
rilke piqué par une rose
c’est décidé
demain je ne sors pas de chez moi
Patrice Delbourg
walter scott de la poliomyélite
napoléon d’un carcinome de l’estomac
baudelaire de la syphilis
gambetta d’une péritonite
hemingway se mit du plomb dans la tête
alphonse allais se noya dans l’absinthe
zweig dans un réchaud à gaz
raymond roussel tétanisé par les barbituriques
nerval asphyxié par une petite musique de chanvre
rimbaud d’une tumeur au genou
faulkner d’une chute de cheval
gogol affamé par un moine
jean follain renversé par un chauffard
camus écrabouillé contre un platane
henri calet lors d’une étreinte amoureuse
virginia woolf au fond d’une rivière
chénier la tête décollée
apollinaire terrassé par la grippe espagnole
nicolas de staël aimanté par une fenêtre
boris vian victime d’un cœur capricieux
rilke piqué par une rose
c’est décidé
demain je ne sors pas de chez moi
Patrice Delbourg
Tschaikowki ist an der Cholera
gestorben
Walter Scott an der Kinderlähmung
Napoleon am Magenkrebs
Baudelaire an der Syphilis
Gambetta an Bauchfellentzündung
Hemingway schoß sich eine Kugel in den Kopf
Alphonse Allais ertrank im Absinth
Stefan Zweig starb im Gasherd
Raymond Roussel erstarrte an Barbituraten
Nerval erstickte an einer kleinen Haschischdosis
Rimbaud starb an einer Geschwulst im Knie
Faulkner an einem Sturz vom Pferd
Gogol ausgehungert durch einen Mönch
Jean Follain wurde einem Verkehrssünder umgefahren
Camus an einer Platane zerschmettert
Henri Calet starb beim Liebesakt
Virginia Woolf auf dem Grund eines Flusses
Chénier bekam den Kopf abgeschlagen
Apollinaire wurde von der spanischen Grippe niedergestreckt
Nicolas de Staël von einem Fenster magnetisch angezogen
Boris Vian fiel seinem launischen Herzen zum Opfer
Rilke wurde von einer Rose gestochen
Walter Scott an der Kinderlähmung
Napoleon am Magenkrebs
Baudelaire an der Syphilis
Gambetta an Bauchfellentzündung
Hemingway schoß sich eine Kugel in den Kopf
Alphonse Allais ertrank im Absinth
Stefan Zweig starb im Gasherd
Raymond Roussel erstarrte an Barbituraten
Nerval erstickte an einer kleinen Haschischdosis
Rimbaud starb an einer Geschwulst im Knie
Faulkner an einem Sturz vom Pferd
Gogol ausgehungert durch einen Mönch
Jean Follain wurde einem Verkehrssünder umgefahren
Camus an einer Platane zerschmettert
Henri Calet starb beim Liebesakt
Virginia Woolf auf dem Grund eines Flusses
Chénier bekam den Kopf abgeschlagen
Apollinaire wurde von der spanischen Grippe niedergestreckt
Nicolas de Staël von einem Fenster magnetisch angezogen
Boris Vian fiel seinem launischen Herzen zum Opfer
Rilke wurde von einer Rose gestochen
Es ist beschlossene Sache
morgen verlasse ich nicht mein Zimmer
morgen verlasse ich nicht mein Zimmer
Patrice Delbourg
Aus: Ecchymoses et caetera. poèmes 1974-2004
Paris: ed. Castor astral, 2004
Übersetzung: Roland Erb
Paris: ed. Castor astral, 2004
Übersetzung: Roland Erb
Von oben betrachtet
Am Feldweg liegt ein toter Käfer.
Er hat die sechs Beine sorgsam auf dem Bauch gefaltet.
Statt des Wustes von Tod - Sauberkeit und Ordnung.
Gemäßigt ist das Grauen dieses Anblicks,
die Reichweite streng lokal von der Quecke zur Minze.
Die Trauer teilt sich nicht mit.
Der Himmel ist blau.
Unserem Frieden zuliebe sterben die Tiere nicht,
sie krepieren den seichteren Tod. Sie verlieren,
wir wollen es glauben, weniger Welt und Gefühl,
verlassen, so will uns scheinen, die weniger tragische Bühne.
Ihre fügsamen Seelen schrecken uns nicht in der Nacht.
Sie schätzen Distanz.
Sie kennen die mores.
Und also glitzert der tote Käfer, unbeweint,
am Weg in der Sonne.
Es genügt, an ihn soviel zu denken wie hinzusehn:
er liegt, als wäre ihm nichts von Bedeutung passiert.
Bedeutung haben angeblich wir,
nur unsere Leben, nur unser Tod,
der Tod, der erzwungenen Vorrang genießt.
Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Er hat die sechs Beine sorgsam auf dem Bauch gefaltet.
Statt des Wustes von Tod - Sauberkeit und Ordnung.
Gemäßigt ist das Grauen dieses Anblicks,
die Reichweite streng lokal von der Quecke zur Minze.
Die Trauer teilt sich nicht mit.
Der Himmel ist blau.
Unserem Frieden zuliebe sterben die Tiere nicht,
sie krepieren den seichteren Tod. Sie verlieren,
wir wollen es glauben, weniger Welt und Gefühl,
verlassen, so will uns scheinen, die weniger tragische Bühne.
Ihre fügsamen Seelen schrecken uns nicht in der Nacht.
Sie schätzen Distanz.
Sie kennen die mores.
Und also glitzert der tote Käfer, unbeweint,
am Weg in der Sonne.
Es genügt, an ihn soviel zu denken wie hinzusehn:
er liegt, als wäre ihm nichts von Bedeutung passiert.
Bedeutung haben angeblich wir,
nur unsere Leben, nur unser Tod,
der Tod, der erzwungenen Vorrang genießt.
Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Donnerstag, 20. April 2017
Fremde Vokabel
"La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?", fragte sie mich und atmete sofort leichter. Es gibt jetzt so viele von diesen Ländern, daß es am sichersten ist, über das Klima zu sprechen.
"Oh ja", möchte ich ihr antworten, "die Dichter meines Landes schreiben in Handschuhn. Ich behaupte nicht, sie zögen sie niemals aus; wenn der Mondschein wärmt, dann schon. In ihren Strophen, vom lauten Getöse skandiert, denn nur Getöse dringt durch das Heulen der Stürme, besingen sie das einfache Leben der Seehundhirten. Die Klassiker wühlen mit Tintenzapfen in festgetretenen Dünen. Der Rest, die Dekadenten, beweint das Schicksal der kleinen Sterne aus Schnee. Wer sich ertränken will, muß zum Beil greifen, um eine Wake zu schlagen. So ist das, meine Liebe."
So möchte ich ihr antworten. Aber ich vergaß, was Seehund auf französisch heißt. Ich bin mir auch des Zapfens und der Wake nicht ganz sicher.
"La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?"
- "Pas du tout", antwortete ich eisig.
Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
"Oh ja", möchte ich ihr antworten, "die Dichter meines Landes schreiben in Handschuhn. Ich behaupte nicht, sie zögen sie niemals aus; wenn der Mondschein wärmt, dann schon. In ihren Strophen, vom lauten Getöse skandiert, denn nur Getöse dringt durch das Heulen der Stürme, besingen sie das einfache Leben der Seehundhirten. Die Klassiker wühlen mit Tintenzapfen in festgetretenen Dünen. Der Rest, die Dekadenten, beweint das Schicksal der kleinen Sterne aus Schnee. Wer sich ertränken will, muß zum Beil greifen, um eine Wake zu schlagen. So ist das, meine Liebe."
So möchte ich ihr antworten. Aber ich vergaß, was Seehund auf französisch heißt. Ich bin mir auch des Zapfens und der Wake nicht ganz sicher.
"La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?"
- "Pas du tout", antwortete ich eisig.
Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Mittwoch, 19. April 2017
Kleine Anzeigen
ICH LEHRE das Schweigen
in allen Sprachen
nach der Methode der Betrachtung
des Sternenhimmels,
des Sinanthropus,
der Heupferdchensprünge,
der Säuglingsnägel,
des Planktons,
der Schneeflocke.
ICH STELLE die Liebe wieder her
Achtung! Okkasion!
Auf vorjährigem Rasen
im Sonnenlicht bis zur Kehle
liegt ihr beim Tanz des Windes
(des vom vergangenen Jahr,
des Tanzmeisters eurer Haare).
Offerten unter: Traum.
FÜR DAS VERSPRECHEN meines Mannes,
der euch verführt hat mit Farben
der volkreichen Welt, ihrem Lärm,
dem Lied vor dem Fenster, dem Hund jenseits der Wand:
ihr würdet nimmer allein sein
im Dunkel und in der Stille und ohne Atem
- komm ich nicht auf. Nacht,
Witwe des Tags.
Wisława Szymborska / 1957
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
in allen Sprachen
nach der Methode der Betrachtung
des Sternenhimmels,
des Sinanthropus,
der Heupferdchensprünge,
der Säuglingsnägel,
des Planktons,
der Schneeflocke.
ICH STELLE die Liebe wieder her
Achtung! Okkasion!
Auf vorjährigem Rasen
im Sonnenlicht bis zur Kehle
liegt ihr beim Tanz des Windes
(des vom vergangenen Jahr,
des Tanzmeisters eurer Haare).
Offerten unter: Traum.
FÜR DAS VERSPRECHEN meines Mannes,
der euch verführt hat mit Farben
der volkreichen Welt, ihrem Lärm,
dem Lied vor dem Fenster, dem Hund jenseits der Wand:
ihr würdet nimmer allein sein
im Dunkel und in der Stille und ohne Atem
- komm ich nicht auf. Nacht,
Witwe des Tags.
Wisława Szymborska / 1957
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Dienstag, 18. April 2017
Beim Wein
Er sah, sein Blick gab mir Schönheit,
und ich empfing sie als die meine.
Glücklich, verschlang ich einen Stern.
Ich ließ es geschehen, daß er mich ausdachte
zum Ebenbild der Spiegelung
in seinen Augen. So tanze ich, tanze
in dem Geflatter plötzlicher Flügel.
Tisch ist Tisch, Wein ist Wein
im Glas, das ein Glas ist
und stehend auf dem Tisch steht.
Aber ich bin imaginär,
unglaublich imaginär,
imaginär bis ins Blut.
Ich erzähl ihm, was er will: von Ameisen
die an der Liebe sterben
unter dem Sternbild der Pusteblume.
Ich schwöre, daß weiße Rosen,
mit Wein besprengt, singen.
Ich lache, neige den Kopf
behutsam, als überprüfte ich
eine Erfindung. Ich tanze, tanze
in der staunenden Haut, in der Umarmung,
die mich erschafft.
Eva aus Rippe, Venus aus Schaum,
Minerva aus Jovis' Haupt
waren wirklicher.
Blickt er an mir vorbei,
such ich mein Spiegelbild
an der Wand. Dort seh ich nur
einen Nagel, kein Bild.
Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
und ich empfing sie als die meine.
Glücklich, verschlang ich einen Stern.
Ich ließ es geschehen, daß er mich ausdachte
zum Ebenbild der Spiegelung
in seinen Augen. So tanze ich, tanze
in dem Geflatter plötzlicher Flügel.
Tisch ist Tisch, Wein ist Wein
im Glas, das ein Glas ist
und stehend auf dem Tisch steht.
Aber ich bin imaginär,
unglaublich imaginär,
imaginär bis ins Blut.
Ich erzähl ihm, was er will: von Ameisen
die an der Liebe sterben
unter dem Sternbild der Pusteblume.
Ich schwöre, daß weiße Rosen,
mit Wein besprengt, singen.
Ich lache, neige den Kopf
behutsam, als überprüfte ich
eine Erfindung. Ich tanze, tanze
in der staunenden Haut, in der Umarmung,
die mich erschafft.
Eva aus Rippe, Venus aus Schaum,
Minerva aus Jovis' Haupt
waren wirklicher.
Blickt er an mir vorbei,
such ich mein Spiegelbild
an der Wand. Dort seh ich nur
einen Nagel, kein Bild.
Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt
Per M.: Sì, sì, è vero... E lo sapevamo. Nondimeno grazie. L.
Montag, 17. April 2017
Curriculum Vitae
Lang
ist die Nacht,
lang für den Mann,
der nicht sterben kann, lang
unter Straßenlaternen schwankt
sein nacktes Aug und sein Aug
schnapsatemblind, und Geruch
von nassem Fleisch unter seinen Nägeln
betäubt ihn nicht immer, o Gott,
lang ist die Nacht.
Mein Haar wird nicht weiß,
den ich kroch aus dem Schoß von Maschinen,
Rosenrot strich mir Teer auf die Stirn
und die Strähnen, man hatt’ ihr
die schneeweiße Schwester erwürgt. Aber ich,
der Häuptling, schritt durch die Stadt
von zehnmalhunderttausend Seelen, und mein Fuß
trat auf die Seelenasseln unterm Lederhimmel,
aus dem
zehnmalhunderttausend Friedenspfeifen
hingen, kalt. Engelsruhe
wünscht’ ich mir oft
und Jagdgründe, voll
vom ohnmächtigen Geschrei
meiner Freunde.
Mit gespreizten Beinen und Flügeln,
binsenweis stieg die Jugend
über mich, über Jauche, über Jasmin ging’s
in die riesigen Nächte mit dem Quadrat-
wurzelgeheimnis, es haucht die Sage
des Tods stündlich mein Fenster an,
Wolfsmilch gebt mir und schüttet
in meinen Rachen das Lachen
der Alten vor mir, wenn ich in Schlaf
fall über den Folianten,
in den beschämenden Traum,
daß ich nicht taug für Gedanken,
mit Troddeln spiel,
aus denen Schlangen fransen.
Auch unsere Mütter haben
von der Zukunft ihrer Männer geträumt,
sie haben sie mächtig gesehen,
revolutionär und einsam,
doch nach der Andacht im Garten
über das flammende Unkraut gebeugt,
Hand in Hand mit dem geschwätzigen
Kind ihrer Liebe. Mein trauriger Vater,
warum habt ihr damals geschwiegen
und nicht weitergedacht?
Verloren in den Feuerfontänen,
in einer Nacht neben einem Geschütz,
das nicht feuert, verdammt lang
ist die Nacht, unter dem Auswurf
des gelbsüchtigen Monds, seinem galligen
Licht, fegt in der Machttraumspur
über mich (das halt ich nicht ab)
der Schlitten mit der verbrämten
Geschichte hinweg.
Nicht das ich schlief: wach war ich,
zwischen Eisskeletten sucht’ ich den Weg,
kam heim, wand mir Efeu
um Arm und Bein und weißte
mit Sonnenresten die Ruinen.
Ich hielt die hohen Feiertage,
und erst wenn es gelobt war,
brach ich das Brot.
In einer großspurigen Zeit
muß man rasch von einem Licht
ins andre gehen, von einem Land
ins andre, unterm Regenbogen,
die Zirkelspitze im Herzen,
zum Radius genommen die Nacht.
Weit offen. Von den Bergen
sieht man Seen, in den Seen
Berge, und im Wolkengestühl
schaukeln die Glocken
der einen Welt. Wessen Welt
zu wissen, ist mir verboten.
An einem Freitag geschah’s
– ich fastete um mein Leben,
die Luft troff vom Saft der Zitronen
und die Gräte stak mir im Gaumen –
da löst’ ich aus dem entfalteten Fisch
einen Ring, der, ausgeworfen
bei meiner Geburt, in den Strom
der Nacht fiel und versank.
Ich warf ihn zurück in die Nacht.
O hätt ich nicht Todesfurcht!
Hätt ich das Wort,
(verfehlt ich’s nicht),
hätt ich nicht Disteln im Herz,
(schlüg ich die Sonne nicht aus),
hätt ich nicht Gier im Mund,
(tränk ich das wilde Wasser nicht),
schlüg ich die Wimper nicht auf,
(hätt ich die Schnur nicht gesehn).
Ziehn sie den Himmel fort?
Trüg mich die Erde nicht,
läg ich schon lange still,
läg ich schon lang,
wo die Nacht mich will,
eh sie die Nüstern bläht
und ihren Huf hebt
zu neuen Schlägen,
immer zum Schlag.
Immer die Nacht.
Und kein Tag.
Ingeborg Bachmann
lang für den Mann,
der nicht sterben kann, lang
unter Straßenlaternen schwankt
sein nacktes Aug und sein Aug
schnapsatemblind, und Geruch
von nassem Fleisch unter seinen Nägeln
betäubt ihn nicht immer, o Gott,
lang ist die Nacht.
Mein Haar wird nicht weiß,
den ich kroch aus dem Schoß von Maschinen,
Rosenrot strich mir Teer auf die Stirn
und die Strähnen, man hatt’ ihr
die schneeweiße Schwester erwürgt. Aber ich,
der Häuptling, schritt durch die Stadt
von zehnmalhunderttausend Seelen, und mein Fuß
trat auf die Seelenasseln unterm Lederhimmel,
aus dem
zehnmalhunderttausend Friedenspfeifen
hingen, kalt. Engelsruhe
wünscht’ ich mir oft
und Jagdgründe, voll
vom ohnmächtigen Geschrei
meiner Freunde.
Mit gespreizten Beinen und Flügeln,
binsenweis stieg die Jugend
über mich, über Jauche, über Jasmin ging’s
in die riesigen Nächte mit dem Quadrat-
wurzelgeheimnis, es haucht die Sage
des Tods stündlich mein Fenster an,
Wolfsmilch gebt mir und schüttet
in meinen Rachen das Lachen
der Alten vor mir, wenn ich in Schlaf
fall über den Folianten,
in den beschämenden Traum,
daß ich nicht taug für Gedanken,
mit Troddeln spiel,
aus denen Schlangen fransen.
Auch unsere Mütter haben
von der Zukunft ihrer Männer geträumt,
sie haben sie mächtig gesehen,
revolutionär und einsam,
doch nach der Andacht im Garten
über das flammende Unkraut gebeugt,
Hand in Hand mit dem geschwätzigen
Kind ihrer Liebe. Mein trauriger Vater,
warum habt ihr damals geschwiegen
und nicht weitergedacht?
Verloren in den Feuerfontänen,
in einer Nacht neben einem Geschütz,
das nicht feuert, verdammt lang
ist die Nacht, unter dem Auswurf
des gelbsüchtigen Monds, seinem galligen
Licht, fegt in der Machttraumspur
über mich (das halt ich nicht ab)
der Schlitten mit der verbrämten
Geschichte hinweg.
Nicht das ich schlief: wach war ich,
zwischen Eisskeletten sucht’ ich den Weg,
kam heim, wand mir Efeu
um Arm und Bein und weißte
mit Sonnenresten die Ruinen.
Ich hielt die hohen Feiertage,
und erst wenn es gelobt war,
brach ich das Brot.
In einer großspurigen Zeit
muß man rasch von einem Licht
ins andre gehen, von einem Land
ins andre, unterm Regenbogen,
die Zirkelspitze im Herzen,
zum Radius genommen die Nacht.
Weit offen. Von den Bergen
sieht man Seen, in den Seen
Berge, und im Wolkengestühl
schaukeln die Glocken
der einen Welt. Wessen Welt
zu wissen, ist mir verboten.
An einem Freitag geschah’s
– ich fastete um mein Leben,
die Luft troff vom Saft der Zitronen
und die Gräte stak mir im Gaumen –
da löst’ ich aus dem entfalteten Fisch
einen Ring, der, ausgeworfen
bei meiner Geburt, in den Strom
der Nacht fiel und versank.
Ich warf ihn zurück in die Nacht.
O hätt ich nicht Todesfurcht!
Hätt ich das Wort,
(verfehlt ich’s nicht),
hätt ich nicht Disteln im Herz,
(schlüg ich die Sonne nicht aus),
hätt ich nicht Gier im Mund,
(tränk ich das wilde Wasser nicht),
schlüg ich die Wimper nicht auf,
(hätt ich die Schnur nicht gesehn).
Ziehn sie den Himmel fort?
Trüg mich die Erde nicht,
läg ich schon lange still,
läg ich schon lang,
wo die Nacht mich will,
eh sie die Nüstern bläht
und ihren Huf hebt
zu neuen Schlägen,
immer zum Schlag.
Immer die Nacht.
Und kein Tag.
Ingeborg Bachmann
Captain Fantastic
Ein tatsächlich phantastischer Film
mit vielen leisen Untertönen, klaren Statements und großartigen Schauspielern.
My face is mine
My hands are mine
My mouth is mine
I'm not mine
I'm yours
Sonntag, 16. April 2017
Lebenslauf
Ich war kein Stein keine Wolke
keine Glocke und keine Laute
geschlagen von einem Engel oder von einem Teufel
Ich war von Anfang an nichts als ein Mensch
und ich will auch nicht etwas anderes sein
Als Mensch bin ich aufgewachsen
und habe Unrecht erlitten
und manchmal Unrecht getan
und manchmal Gutes
Als Mensch empöre ich mich
gegen Unrecht und freue mich
über jeden Schimmer von Hoffnung
Als Mensch bin ich wach und müde
und arbeite und habe Sorgen
und Hunger nach Verstehen
und nach Verstandenwerden
Als Mensch habe ich Freude an meinen Freunden
und habe Freude an Frau und Kindern und Enkeln
und habe Angst um sie und Sehnsucht nach Sicherheit
und will mit Menschen sein und manchmal allein sein
und bedauere jede Nacht ohne Liebe
Als Mensch bin ich krank und alte
und werde sterben
und werde kein Stein sein
keine Wolke und keine Glocke
sondern Erde und Asche
und darauf kommt es nicht an
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Samstag, 15. April 2017
Kein Unterschlupf
Freitag, 14. April 2017
Die Warner
Wenn Leute dir sagen:
"Kümmere dich nicht
soviel
um dich selbst"
dann sieh dir
die Leute an
die dir das sagen:
An ihnen kannst du erkennen
wie das ist
wenn einer
sich nicht genug
um sich selbst
gekümmert hat
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Donnerstag, 13. April 2017
Lob der Verzweiflung
die Verzweiflung herunterzumachen
denn die Verzweiflung macht unser Leben zu dem was es ist
Sie denkt das aus
vor dem wir Ausflüchte suchen
Sie sieht dem ins Gesicht
vor dem wir die Augen verschließen
Keiner der weniger oberflächlich wäre als sie
Keiner der bessere Argumente hätte als sie
Keine der in Erwägung all dessen
was sie und wir wissen
mehr Recht darauf hätte als sie
so zu sein wie sie ist
Früh am Morgen fühlt sie sich fast noch glücklich
Erst langsam erkennt sie sich selbt
Nach den ersten Worten
die sie mit irgendwem wechselt beginnt sie zu wissen:
sie ist nicht froh
sie ist noch immer sie selbst
Die Verzweiflung ist nicht frei von Launen und Schwächen
Ob ihr Witz eine Stärke oder eine Schwäche ist
weiß sie selbst nicht
Sie kann zornig sein
sie kann bissig und ungerecht sein
sie kann zu besorgt sein um ihre eigene Würde
Aber ohne den Mut zur Verzweiflung wäre vielleicht
noch weniger Würde zu finden
noch weniger Ehrlichkeit
noch weniger Stolz der Ohnmacht gegen die Macht
Es ist ungerecht die Verzweiflung zu verdammen
Ohne Verzweiflung müßten wir alle verzweifeln
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Mittwoch, 12. April 2017
Nur nicht
Das Leben
wäre
vielleicht einfacher
wenn ich dich
gar nicht getroffen hätte
Weniger Trauer
jedes Mal
wenn wir uns trennen müssen
weniger Angst
vor der nächsten
und übernächsten Trennung
Und auch nicht soviel
von dieser machtlosen Sehnsucht
wenn du nicht da bist
die nur das Unmögliche will
und das sofort
im nächsten Augenblick
und die dann
weil es nicht sein kann
betroffen ist
und schwer atmet
Das Leben
wäre vielleicht
einfacher
wenn ich dich
nicht getroffen hätte
Es wäre nur nicht
mein Leben
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Dienstag, 11. April 2017
Schwache Stunde
Nun geben
die Antworten
den Antworten
fertige Antwort
und die Fragen
fragen nicht mehr
Was wären das auch
für Fragen?
"Hast du die Liebe gesehen?
Warum läuft sie davon?
Seit wann
geht Liebe
nicht mehr
zur Liebe?
Was ist das für eine Liebe
die so etwas tut?
Ihre feindlichen
fernen Verwandten
sind so
Aber sie
heißt doch Liebe?
Soll man sie
anders nennen?
Und kann man sie rufen
daß sie umkehrt
und nicht davonläuft?"
Das wären noch immer
Fragen
Aber die Fragen
fragen nicht mehr
und nur
die fertigen Antworten
geben den Antworten
Antwort
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Montag, 10. April 2017
Frau Welt
Ich bin
zur Welt
gekommen
und bin nun
endlich so weit
laut
zu fragen
wie ich
dazukomme
zu ihr zu kommen
Sie kommt
und sagt leise:
Du kommst nicht
du bist schon
im Gehen
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
zur Welt
gekommen
und bin nun
endlich so weit
laut
zu fragen
wie ich
dazukomme
zu ihr zu kommen
Sie kommt
und sagt leise:
Du kommst nicht
du bist schon
im Gehen
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995, München
Sonntag, 9. April 2017
Verlassenes Zimmer
Im Zimmer der Staub
zart auf den Fensterscheiben
der leise Staub
auf dem Tisch
auf dem alten Kissen:
Pfirsichflaum
der streichelt
die streichelnde Hand
der zeigt der Sonne
den Weg durch geschlossene Fenster
Müde sein
und nicht weinen wollen
und nicht
sterben wollen
geweint haben und schon tot sein:
Im leichten Staub
der dem Sonnenlicht seinen Weg zeigt
auf dem Kissen liegen
nicht wieder
nein immer
noch immer
und schon für immer
Staub auf Staub unter Staub
Staub auf dem Tisch
auf dem Bett
auf den Fensterscheiben:
Staub im Staub
Sonne im Staub
Staub in der Sonne
Ich Staub im Zimmer der Sonne
ich Staub auf dem Kissen
ich Wieder ich Noch ich Immer
im Zimmer aus Staub
Erich Fried
aus: Erich Fried, Gedichte, dtv, 1995
Samstag, 8. April 2017
Jedenfalls
Es hätte geschehen können.
Es hätte geschehen müssen.
Es war schon geschehen. Später.
Näher. Ferner.
Es ist nicht dir geschehen.
Du überlebtest, denn du bist der erste gewesen.
Du überlebtest, denn du bist der letzte gewesen.
Weil selbst. Weil die Menschen.
Weil links. Weil rechts.
Weil Regen. Weil Schatten.
Weil Sonne.
Zum Glück gabs den Wald.
Zum Glück keine Bäume.
Zum Glück das Gleis, den Haken, den Balken, die Bremse,
die Nische, die Kurve, den Millimeter, eine Sekunde.
Zum Glück schwamm ein Strohhalm im Wasser.
Infolge, deswegen, und dennoch, trotzdem.
Was wär, wenn das Hand, das Bein,
einen Schritt, eines Haares Breite
vom Zufall.
Also du bist? Stracks aus dem noch durchlässigen Moment?
Das Netz aus einer Masche, und du durch diese Masche?
Ich kann mich nicht genug darüber wundern, schweigen.
Höre,
wie schnell mir dein Herz schlägt.
Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1973, Frankfurt
Freitag, 7. April 2017
Heimkehr
Er kam nach Hause. Sagte kein Wort.
Klar, daß er Ärger hatte.
Legte sich unausgezogen hin.
Verbarg den Kopf in der Decke.
Zog seine Knie an.
Er ist etwa vierzig, doch nicht in diesem Moment.
Er ist nicht mehr als damals im Mutterleib,
hinter den sieben Häuten, im schützenden Dunkel.
Morgen wird er den Vortrag halten über Homöostase
in der metagalaktischen Kosmonautik.
Vorläufig liegt er zusammengerollt
und schläft.
Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1973, Frankfurt
Bescheidene Anfrage
Steht
mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
Bretterdach auch jetzt noch malerisch?
Geht die Haustürklingel noch so schrill
Und verklingt erschrocken immer leiser ...
Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
Ists am Abend so wie damals still ?
Hast du immer noch kein Telephon?
Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
Auf dem altersschwachen Grammophon?
Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
Sagt Johanna immer noch «der» Gas ... ?
Darf man in das teure Gartengras
Immer noch nicht seine Beine strecken?
Weht der Seewind morgens noch so frisch?
Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
... Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Steht mein Bild ...? - Ich hab’ es selbst zerrissen!
Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
Aber manchmal möcht man manches wissen,
Wenn man so mit sich alleine ist ...
Mascha Kaléko
Kramst du manchmal noch in meinen Briefen?
Ist das kleine Landhaus mit dem schiefen
Bretterdach auch jetzt noch malerisch?
Geht die Haustürklingel noch so schrill
Und verklingt erschrocken immer leiser ...
Bellt dein Dackel Julius noch so heiser?
Ists am Abend so wie damals still ?
Hast du immer noch kein Telephon?
Gibts auf dem Balkon noch Hängematten?
Spielt ihr manchmal noch die Schubertplatten
Auf dem altersschwachen Grammophon?
Gibts zum Tee noch immer Zuckerschnecken?
Sagt Johanna immer noch «der» Gas ... ?
Darf man in das teure Gartengras
Immer noch nicht seine Beine strecken?
Weht der Seewind morgens noch so frisch?
Grinst der Mond des Nachts noch so verlegen?
Gehst du manchmal mir zur Bahn entgegen?
... Steht mein Bild wohl noch auf deinem Tisch?
Steht mein Bild ...? - Ich hab’ es selbst zerrissen!
Glaub nur nicht, ich hätte deins vermißt.
Aber manchmal möcht man manches wissen,
Wenn man so mit sich alleine ist ...
Mascha Kaléko
Donnerstag, 6. April 2017
Mittwoch, 5. April 2017
Oktober / Früher
Für den, den ich vor 2714 Tagen zuletzt sah.
In meinen Gedanken ist es immer Sommer,
nie Oktober.
L.
Fragen
für Ivan Divis
Wie groß ist dein Leben?
Wie tief?
Was kostet es dich?
Bis wann zahlst du?
Wieviel Türen hat es?
Wie oft
hast du schon ein neues begonnen?
Warst du schon einmal
gezwungen um es zu laufen?
Wenn ja
bist du runherum gelaufen
im Kreis oder hast du
Einbuchtungen mitgelaufen?
Was dachtest du dir dabei?
Woran erkanntest du
daß du ganz herum warst?
Bist du mehrmals gelaufen?
War das dritte Mal
wie das zweite?
Würdest du lieber
die Strecke im Wagen fahren?
oder gefahren werden?
in welcher Richtung?
von wem?
Erich Fried
aus: Erich Fried, "Gedichte", dtv, 1995, München
Wie groß ist dein Leben?
Wie tief?
Was kostet es dich?
Bis wann zahlst du?
Wieviel Türen hat es?
Wie oft
hast du schon ein neues begonnen?
Warst du schon einmal
gezwungen um es zu laufen?
Wenn ja
bist du runherum gelaufen
im Kreis oder hast du
Einbuchtungen mitgelaufen?
Was dachtest du dir dabei?
Woran erkanntest du
daß du ganz herum warst?
Bist du mehrmals gelaufen?
War das dritte Mal
wie das zweite?
Würdest du lieber
die Strecke im Wagen fahren?
oder gefahren werden?
in welcher Richtung?
von wem?
Erich Fried
aus: Erich Fried, "Gedichte", dtv, 1995, München
Dienstag, 4. April 2017
VIELLEICHT WIRD'S NIE WIEDER SO SCHÖN
Ich denk noch manchmal an den Sonntag,
ich war vielleicht acht Jahre alt.
Ich
ging mit Vater ins Museum,
da
drinnen war es hundekalt.
Er
nahm mich unter seinen Mantel
und
sagte: "Komm, wir spieln Kamel!"
Wir
stapften kichernd durchs Museum,
die
Aufsichtstanten guckten scheel.
An
der verschneiten Haltestelle
durft
ich auf seinen Füßen stehn.
Ich
hielt mich fest an ihm und dachte:
"Vielleicht
wird's nie wieder so schön.
Bevor
wir auseinander gingen,
fuhr
unsere Klasse noch einmal
in
ein Barackenferienlager
mit
einem kleinen See im Tal.
Am
letzten Abend ein Getuschel:
"Wir
treffen uns am See heut Nacht."
Wir
schlichen uns aus den Baracken,
die
Lehrer sind nicht aufgewacht.
Wir
schwammen nackt ans andre Ufer
und
haben uns schüchtern angesehn
im
weißen Mondlicht. Und ich dachte:
"Vielleicht
wird's nie wieder so schön,
hee,
mmh, vielleicht wird's nie wieder so schön."
Am
Bahnsteig lernte ich sie kennen,
sie
hatten ihren Zug verpasst,
die
sieben polnischen Studenten,
jetzt
waren sie bei mir zu Gast.
Die
Mädchen schmierten ein paar Brote,
die
Jungen haben Wein besorgt,
und
ich hab mir bei meinen Nachbarn
'nen
Stapel Decken ausgeborgt.
Wir
sangen "Dona nobis pacem",
"Give
peace a chance" und "Penny Lane".
Als
wir uns früh umarmten, dacht ich:
"Vielleicht
wird's nie wieder so schön,
mmh,
hee, vielleicht wird's nie wieder so schön."
Damals
im Zelt mit meiner Freundin,
die
erste Nacht mit ihr allein.
Wir
wagten nicht, uns auszuziehen
und
krochen in den Schlafsack rein.
Wir
schmiegten uns ganz aneinander,
ich
hab nur ihr Gesicht berührt.
Als
sie schon schlief, hab ich noch immer
ihr
Atmen wie ein Glück gespürt.
Obwohl
mir schon die Arme schmerzten,
ich
dacht nicht dran, mich umzudrehn.
Es
wurde Morgen, und ich dachte:
"Vielleicht
wird's nie wieder so schön,
mmh,
vielleicht wird's nie wieder so schön."
Noch
manchmal, wenn wir uns umarmten,
oft
grundlos traurig, grundlos froh.
Einmal,
als ich ein Mädchen hörte
in
einer Kirche, irgendwo.
Als
wir klitschnass am Waldrand hockten,
und
ein Regenbogen stand.
Und
wenn ich plötzlich Menschen mochte,
die
ich zuvor noch nicht gekannt.
Wenn
ich's vor Heimweh nicht mehr aushielt,
fuhr
nachts zurück, um dich zu sehn.
In
vielen Augenblicken dacht ich:
"Vielleicht
wird's nie wieder so schön,
mmh,
hee, vielleicht wird's nie wieder so schön."
Gerhard
Schöne
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