... salut de nouveau

Wieder auf Reisen.
Du fragst oft nach mir.
Ich telephonier
noch vorm Zubettgehen mit dir.


Freu mich auf den Moment,
wenn ich steh in der Tür,

und du läufst mir jauchzend entgegen.

...

Und dann öffne ich meine Arme für dich.
Ja, dann öffne ich meine Arme für dich!


Dann öffne ich meine Arme, Gerhard Schöne (1992)


Posts mit dem Label Wisława Szymborska werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Wisława Szymborska werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Freitag, 2. August 2019

Überraschendes Wiedersehen

Wir begegnen uns höflich,
sagen: Wie nett, sich nach Jahren wiederzusehen.

Unsere Tiger trinken Milch.
Unsere Habichte laufen zu Fuß.
Unsere Haie ertrinken im Wasser.
Unsere Wölfe gähnen am offenen Käfig.

Unsere Schlangen haben sich freigeschüttelt von Blitzen,
die Affen von Einfällen, die Pfauen von Federn.
Die Fledermäuse sind längst schon aus unseren Haaren geflüchtet.

Wir verstummen mitten im Satz,
hilflos lächelnd. 
Unsereiner hat sich
nichts mehr zu sagen.

Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt


Wer weiß, welche Wege wir nehmen... 
L.
 

Montag, 15. Mai 2017

Dank

Vieles verdanke ich denen, 
die ich nicht liebe.

Erleichterten Seufzer, mit dem ich quittiere,
daß jemandem anders sie nahestehn.

Die Freude, weil nicht ich
der Wolf ihrer Schafe bin.

Friede mit ihnen
und Freiheit mit ihnen,
denn das kann die Liebe nicht geben,
nicht nehmen.

Auf sie warte ich nicht
vom Fenster zur Tür.
Geduldig
fast einer Sonnenuhr gleich
begreife ich, 
was Liebe nicht greift,
verzeih ich, 
was Liebe niemals verziehe.

Von erster Bewegung zum Brief
verfließt nicht die Ewigkeit,
bloß ein paar Tage und Wochen.

Reisen mit ihnen sind immer gelungen,
gelungen die gemeinsam gehörten Konzerte,
die besuchten Kathedralen,
die klar umrissenen Landschaften.

Und wenn wir uns trennen
die sieben Berge und Flüsse,
so sind das Berge und Flüsse,
nachprüfbar auf der Karte.

Ihnen vor allem gebührt das Verdienst,
daß ich in drei Dimensionen lebe,
in einem unpoetischen, untheoretischen Raum,
mit einem Horizont, der wahr ist, denn er bewegt sich.

Selber wissen sie nicht, 
wieviel sie in leerer Hand tragen.

"Nichts schulde ich ihnen",
würde die Liebe sagen
zu diesem Stoff.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Vokabeln. Gedichte, Volk und Welt Verlag, 1979, Berlin




Donnerstag, 11. Mai 2017

Unter einem kleinen Stern


Der Zufall möge verzeihen, daß ich für notwendig ihn halte,
die Notwendigkeit, wenn trotz allem ich irre.
Möge das Glück mir nicht zürnen, wenn ich es als meines betrachte.
Die Toten mögen vergessen, daß sie in meinem Gedächtnis nur glimmen.

Die Zeit verzeihe mir die Vielzahl pro Sekunde übersehener Welt. 
Meine alte Liebe verzeihe, daß mir die neue als erste erscheint. 
Verzeiht mir, ihr fernen Kriege, daß ich Blumen nach Hause bringe,
verzeiht, ihr offenen Wunden, daß ich in den Finger mich pike.
Verzeiht, ihr Rufer am Abgrund, das Menuett auf der Platte,
verzeiht mir, die ihr auf Bahnhöfen wartet, den Schlaf um fünf in der Früh.

Vergib mir, gehetzte Hoffnung, daß manchmal ich lache. 
Vergebt mir,Wüsten, den vergessenen Löffel mit Wasser.
Und du Habicht, der gleiche seit Jahren in den einen Käfig 
gesperrt, versunken ohne Bewegung in immer denselben Punkt,
sprich mich frei, und seiest du ausgestopftes Getier.
Der gefällte Baum, er vergebe mir die vier Tischbeine.
Die großen Fragen mögen die kleinen Antworten verzeihen.
Und du, Wahrheit, schau lieber ein wenig beiseite. 
Du, Mut, erweise mir Großmut.
Dulde, Geheimnis des Seins, daß aus einem Klagelied die Fäden ich zupfe,
nicht beschuldige mich, Seele, daß du nur selten in mir weilst. 
Alles mag mir verzeihn, daß ich nicht überall sein kann. 
Alle, daß ich bei ihm oder ihr abwesend bin.
Ich weiß, solange ich lebe, entschuldigt mich nichts,
denn ich selber stehe mir hier im Wege.
Nimm mir nicht übel, o Sprache, daß ich pathetische Wörter entlieh
und dann keine Mühe scheute, sie mühelos leicht erscheinen zu lassen.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Vokabeln. Gedichte, Volk und Welt Verlag, 1979, Berlin



Mittwoch, 10. Mai 2017

Um vier Uhr morgens


Nachttagstunde.
Schlaflose Stunde der Nacht.
Stunde der Dreißigjährigen.

Stunde, eingespannt in der Hähne Krähen.
Stunde, in der die Erde gegen uns kreist.
Stunde, angehaucht von erloschener Sterne Wehen.
Stunde ob-da-wirklich-nichts-von-uns-bleibt.

Leere Stunde.
Taube, nüchterne.
Grund aller übrigen Stunden.


Niemand fühlt sich wohl um vier in der Früh.
Wenn es den Ameisen gut geht um vier in der Früh,
laßt uns den Ameisen gratulieren. Und mag es fünf werden,
sofern uns gegeben ist, weiter zu leben. 

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Vokabeln. Gedichte, Volk und Welt Verlag, 1979, Berlin



Montag, 8. Mai 2017

Einst

Einst hatten wir die Welt im Nu gewußt:
- sie war so klein, daß zwei im Händedruck sie fassen konnten,
so leicht, daß sie mit einem Lächeln sich beschreiben ließ,
so einfach wie das Echo alter Wahrheit in Gebeten.

Die Geschichte hat uns keine Siegerfanfare geschmettert:
sie hat uns schmutzigen Sand in die Augen gestreut.
Weite und blinde Straßen lagen vor uns
bitteres Brot, vergiftete Brunnen.

Unsere Kriegsbeute ist das Wissen von dieser Welt:
- sie ist so groß, daß zwei im Händedruck sie fassen können,
so schwer, daß sie mit einem Lächeln sich beschreiben läßt,
so seltsam wie das Echo alter Wahrheiten in Gebeten.

Wisława Szymborska / 1945
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt

Montag, 1. Mai 2017

Nichts geschieht zweimal


Nichts geschieht zweimal, nein nichts
wird zweimal geschehn. Deswegen, dermaßen
kamen wir unfertig ins Sein,
und ohne Routine werden wir es verlassen.

In der Schule der Welt selbst unbelehrsamste Kinder
wiederholen wir schwerlich
nicht Sommer und keinen einzigen Winter.

Kein Tag wird dem andern je gleichen,
keine Nacht zu der anderen taugen,
ein Kuß wird dem anderen weichen,
fremd sein derselbe Blick in des gleichen Mannes Augen.

Als deinen Namen gestern ein anderer
laut vor mir nannte, da war mir, 
als wäre eine Rose durchs geöffnete Fenster gefallen.

Heute bist du in meinem Haus, 
und ich bin allein.
Eine Rose? Wie sieht eine Rose aus?
Wie eine Blume? Oder vielleicht wie ein Stein?

Warum, böse Stunde, trübst du vage
den Augenblick mit überflüssigem Zagen?
Du bist, existierst, also mußt du vergehen.
Du wirst vergehen, und das ist schön.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Vokabeln. Gedichte, Volk und Welt Verlag, 1979, Berlin



Freitag, 28. April 2017

Hundert Freuden


Es gelüstete ihn nach Glück,
es gelüstete ihn nach Wahrheit,
es gelüstete ihn nach Ewigkeit,
da schaut her!

Kaum unterschied er Traum von Wirklichkeit,
kaum kam er dahinter, er sei doch er,
kaum hatte er mit der Hand, der Herkunft nach Flosse,
den Feuerstein und die Rakete geschnitzt,
er, in einem Löffel Ozean leicht zu ertränken,
zu wenig komisch sogar, um die Leere lachen zu machen,
der nur mit den Augen sieht,
der nur mit den Ohren hört;
seiner Rede Rekord ist der Konditionalis,
er tadelt mit dem Verstand den Verstand, 
mit einem Wort: fast niemand,
aber er hatte sich die Freiheit, das Allwissen und das Sein in den Kopf gesetzt
jenseits des unklugen Fleisches,
da schaut her!

Denn vorhanden ist er wohl,
er kam in Wahrheit vor 
auf einem der provinziellen Sterne.
Auf seine Art vital und ziemlich rührig.
Als eine mickrige Mißgeburt des Kristalls - 
recht ernst erstaunt.

Als einer mit schwieriger Kindheit in den Zwängen der Herde - 
schon gar nicht so übel einzeln.
Da schaut her!

Nur weiter so, weiter und sei es für einen Moment,
ein kurzes Aufblitzen einer kleinen Galaxis!
Es zeige sich endlich im großen und ganzen,
was er sein wird, da er ist.
Und er ist - verbissen.
Verbissen, zugegeben, sehr.
Mit diesem Ring in der Nase, in dieser Toga, in diesem Pullover.
Hundert Freuden, komme was wolle.
Armes Ding.
Leibhaftiger Mensch.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Deshalb leben wir, Suhrkamp, 1980, Frankfurt am Main






Samstag, 22. April 2017

Entdeckung

Ich glaube an die große Entdeckung.
Ich glaube an den Menschen, der die große Entdeckung macht.
Ich glaube an die Angst des Menschen, der die große Entdeckung macht. 

Ich glaube an die Blässe seines Gesichts,
an seinen Brechreiz, den kalten Schweiß auf der Lippe.

Ich glaube an das Verbrennen der Niederschriften,
an ihr Verbrennen zu Asche,
zur letzten.

Ich glaube an das Verschütten der Zahlen,
ihr reueloses Verschütten.

Ich glaube an die Eile des Menschen,
an die Genauigkeit seiner Bewegung,
an seinen unbezwungenen Willen.

Ich glaube an das Zerschlagen der Tafeln,
an das Vergießen der Flüssigkeiten, 
an das Verlöschen der Flamme. 

Ich meine, daß es gelingen wird,
und daß es dann nicht zu spät sein wird,
und daß sich die Sache ganz ohne Zeugen abspiele wird.

Niemand wird es erfahren, ich bin dessen sicher,
weder die Ehefrau noch die Wand, 
auch nicht der Vogel, er könnte es sonst verpfeifen.

Ich glaube an die lässige Hand,
ich glaube an die verpfuschte Karriere,
ich glaube an die vertane Arbeit vieler Jahre,
ich glaube an das ins Grab genommene Geheimnis.

Mir kreisen diese Worte über den Regeln.
Sie suchen keine Stütze bei den Exempeln.
Mein Glaube ist fest, blind und ohne Begründung.

Wisława Szymborska / Juli 1970
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt


Freitag, 21. April 2017

Von oben betrachtet

Am Feldweg liegt ein toter Käfer.
Er hat die sechs Beine sorgsam auf dem Bauch gefaltet.
Statt des Wustes von Tod - Sauberkeit und Ordnung.
Gemäßigt ist das Grauen dieses Anblicks,
die Reichweite streng lokal von der Quecke zur Minze.
Die Trauer teilt sich nicht mit.
Der Himmel ist blau.

Unserem Frieden zuliebe sterben die Tiere nicht,
sie krepieren den seichteren Tod. Sie verlieren,
wir wollen es glauben, weniger Welt und Gefühl,
verlassen, so will uns scheinen, die weniger tragische Bühne.
Ihre fügsamen Seelen schrecken uns nicht in der Nacht.
Sie schätzen Distanz.
Sie kennen die mores.

Und also glitzert der tote Käfer, unbeweint, 
am Weg in der Sonne.
Es genügt, an ihn soviel zu denken wie hinzusehn:
er liegt, als wäre ihm nichts von Bedeutung passiert.
Bedeutung haben angeblich wir,
nur unsere Leben, nur unser Tod,
der Tod, der erzwungenen Vorrang genießt.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt

 

 

Donnerstag, 20. April 2017

Fremde Vokabel

    "La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?", fragte sie mich und atmete sofort leichter. Es gibt jetzt so viele von diesen Ländern, daß es am sichersten ist, über das Klima zu sprechen.
    "Oh ja", möchte ich ihr antworten, "die Dichter meines Landes schreiben in Handschuhn. Ich behaupte nicht, sie zögen sie niemals aus; wenn der Mondschein wärmt, dann schon. In ihren Strophen, vom lauten Getöse skandiert, denn nur Getöse dringt durch das Heulen der Stürme, besingen sie das einfache Leben der Seehundhirten. Die Klassiker wühlen mit Tintenzapfen in festgetretenen Dünen. Der Rest, die Dekadenten, beweint das Schicksal der kleinen Sterne aus Schnee. Wer sich ertränken will, muß zum Beil greifen, um eine Wake zu schlagen. So ist das, meine Liebe."
    So möchte ich ihr antworten. Aber ich vergaß, was Seehund auf französisch heißt. Ich bin mir auch des Zapfens und der Wake nicht ganz sicher.
    "La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?"
  - "Pas du tout", antwortete ich eisig.

Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt

 
   

Mittwoch, 19. April 2017

Kleine Anzeigen

ICH LEHRE das Schweigen
in allen Sprachen
nach der Methode der Betrachtung
des Sternenhimmels,
des Sinanthropus,
der Heupferdchensprünge,
der Säuglingsnägel,
des Planktons,
der Schneeflocke.

ICH STELLE die Liebe wieder her
Achtung! Okkasion!
Auf vorjährigem Rasen
im Sonnenlicht bis zur Kehle
liegt ihr beim Tanz des Windes
(des vom vergangenen Jahr,
des Tanzmeisters eurer Haare).
Offerten unter: Traum.

FÜR DAS VERSPRECHEN meines Mannes,
der euch verführt hat mit Farben
der volkreichen Welt, ihrem Lärm,
dem Lied vor dem Fenster, dem Hund jenseits der Wand: 
ihr würdet nimmer allein sein
im Dunkel und in der Stille und ohne Atem
- komm ich nicht auf. Nacht,
Witwe des Tags.

Wisława Szymborska / 1957
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt


Dienstag, 18. April 2017

Beim Wein

Er sah, sein Blick gab mir Schönheit,
und ich empfing sie als die meine.
Glücklich, verschlang ich einen Stern.

Ich ließ es geschehen, daß er mich ausdachte
zum Ebenbild der Spiegelung
in seinen Augen. So tanze ich, tanze 
in dem Geflatter plötzlicher Flügel.
Tisch ist Tisch, Wein ist Wein
im Glas, das ein Glas ist
und stehend auf dem Tisch steht.
Aber ich bin imaginär,
unglaublich imaginär,
imaginär bis ins Blut.

Ich erzähl ihm, was er will: von Ameisen
die an der Liebe sterben
unter dem Sternbild der Pusteblume.
Ich schwöre, daß weiße Rosen,
mit Wein besprengt, singen.

Ich lache, neige den Kopf
behutsam, als überprüfte ich 
eine Erfindung. Ich tanze, tanze
in der staunenden Haut, in der Umarmung,
die mich erschafft.

Eva aus Rippe, Venus aus Schaum,
Minerva aus Jovis' Haupt
waren wirklicher.

Blickt er an mir vorbei, 
such ich mein Spiegelbild 
an der Wand. Dort seh ich nur
einen Nagel, kein Bild.

Wisława Szymborska / 1962
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp, 1973, Frankfurt


Per M.: Sì, sì, è vero... E lo sapevamo. Nondimeno grazie. L.


Samstag, 8. April 2017

Jedenfalls


Es hätte geschehen können.
Es hätte geschehen müssen.
Es war schon geschehen. Später.
Näher. Ferner.
Es ist nicht dir geschehen.

Du überlebtest, denn du bist der erste gewesen.
Du überlebtest, denn du bist der letzte gewesen.
Weil selbst. Weil die Menschen.
Weil links. Weil rechts.
Weil Regen. Weil Schatten.
Weil Sonne.

Zum Glück gabs den Wald.
Zum Glück keine Bäume.
Zum Glück das Gleis, den Haken, den Balken, die Bremse,
die Nische, die Kurve, den Millimeter, eine Sekunde.
Zum Glück schwamm ein Strohhalm im Wasser.

Infolge, deswegen, und dennoch, trotzdem. 
Was wär, wenn das Hand, das Bein,
einen Schritt, eines Haares Breite
vom Zufall.

Also du bist? Stracks aus dem noch durchlässigen Moment?
Das Netz aus einer Masche, und du durch diese Masche? 

Ich kann mich nicht genug darüber wundern, schweigen. 

Höre, 
wie schnell mir dein Herz schlägt.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1973, Frankfurt




Freitag, 7. April 2017

Heimkehr


Er kam nach Hause. Sagte kein Wort.
Klar, daß er Ärger hatte.
Legte sich unausgezogen hin. 
Verbarg den Kopf in der Decke.
Zog seine Knie an.

Er ist etwa vierzig, doch nicht in diesem Moment.
Er ist nicht mehr als damals im Mutterleib, 
hinter den sieben Häuten, im schützenden Dunkel.
Morgen wird er den Vortrag halten über Homöostase
in der metagalaktischen Kosmonautik.
Vorläufig liegt er zusammengerollt
und schläft.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1973, Frankfurt


Montag, 3. April 2017

Lob der Träume


Im Traum 
male ich wie Vermeer van Delft.

Ich spreche fließend Griechisch,
nicht nur mit Zeitgenossen.

Ich fahre Auto,
das mir gehorcht.

Ich bin begabt,
schreibe große Poeme.

Ich höre Stimmen,
wie die heiligen Väter, nicht minder.

Ihr würdet staunen
über die Herrlichkeit meines Klavierspiels.

Ich fliege, wie man es muß,
als aus mir heraus.
Fallend vom Dach,
falle ich weich ins Grüne.

Es macht mir nichts aus, 
unter dem Wasser zu atmen.

Ich beklage mich nicht:
ich habe Atlantis entdeckt.

Es freut mich, daß ich im Sterben
immer wieder erwache.

Gleich nach Ausbruch des Krieges
dreh ich mich um, auf die bessere Seite.

Ich bin, doch muß ich es nicht,
ein Kind der Epoche.

Vor einigen Jahren
sah ich zwei Sonnen,

Und vorgestern einen Pinguin.
Vollkommen deutlich.

Wisława Szymborska
aus: Wisława Szymborska, Salz. Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1973, Frankfurt






Sonntag, 19. März 2017

Unaufmerksamkeit


Gestern betrug ich mich schlecht im Kosmos.
Den ganzen Tag lebte ich, ohne zu fragen, 
ohne mich über etwas zu wundern.

Ich verrichtete die alltäglichen Dinge,
als wäre das alles, was ich zu tun habe.

Einatmen, Ausatmen, Schritt für Schritt, Pflichten,
aber ohne einen Gedanken, der weiter reichte
als zum Verlassen des Hauses und zur Rückkehr,

Die Welt hätte als verrückte Welt wahrgenommen werden können,
aber ich nahm sie nur für den täglichen Bedarf.

Weder »wie« noch »warum«,
woher sie eigentlich kommt
und wozu sie so viele lebhafte Details braucht.

Ich war wie ein zu flach in die Wand geschlagener Nagel
oder
(hier ein Vergleich, der mir fehlte).

Eine Veränderung nach der anderen vollzog sich
selbst im beschränkten Feld eines Augenblicks.

Am jüngeren Tisch, mit der um einen Tag jüngeren Hand,
wurde das gestrige Brot anders geschnitten.

Die Wolken wie nie und der Regen wie nie,
fiel er doch in anderen Tropfen.

Die Erde drehte sich um ihre Achse,
aber in einem jetzt für immer verlassenen Raum.

Das dauerte gut vierundzwanzig Stunden.
1440 Minuten Gelegenheit.
86 400 Sekunden zur Einsicht.

Das kosmische
Savoir-vivre
wenn es auch über uns schweigt,
so verlangt es doch etwas von uns:
ein wenig Aufmerksamkeit, ein paar Sätze Pascal
und unsere verwunderte Teilnahme an diesem Spiel
mit unbekannten Regeln.

Wisława Szymborska

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012.



Samstag, 18. März 2017

Schrecklicher Traum eines Dichters


Stell dir vor, was ich geträumt habe.
Scheinbar alles genau wie bei uns.
Boden unter den Füßen, Wasser, Feuer, Luft,
Vertikale, Horizontale, Dreieck, Kreis,
linke und rechte Seite.
Das Wetter erträglich, die Landschaft nicht schlecht
und eine Menge mit Sprache begabter Wesen.
Doch ihre Sprache anders als auf der Erde.

In den Sätzen herrscht die Wirklichkeitsform.
Die Namen decken sich exakt mit den Dingen.
Nichts hinzuzufügen, nichts wegzunehmen, zu ändern oder umzustellen.

Die Zeit ist immer die auf der Uhr.
Vergangenheit und Zukunft haben engen Spielraum.
Für Erinnerungen eine einzige vergangene Sekunde,
für Vorhersagen eine zweite,
die soeben beginnt.

Worte - nur die nötigsten. Nie eins zuviel,
und das bedeutet - keine Poesie,
keine Philosophie und keine Religion.
Solcher Unfug kommt dort nicht in Frage.

Nichts, was man sich nur vorstellen
oder mit geschlossenen Augen sehen kann.

Wenn man sucht, dann das, was auf der Hand liegt.
Wenn man fragt, dann danach, worauf es eine Antwort gibt.
Sie würden sich sehr wundern,
wenn sie sich wundern könnten,
daß es irgendwo Gründe zum Wundern gibt.

Das Stichwort »Unruhe« gilt bei ihnen als obszön,
es hätte nicht den Mut, sich im Wörterbuch zu finden.

Die Welt erscheint klar
selbst bei tiefster Dunkelheit.

Sie wird jedem gewährt, zu erschwinglichem Preis.
Niemand verlangt an der Kasse den Rest.

Aus Gefühlen: Befriedigung. Und nichts in Klammern.
Leben mit einem Punkt am Ende. Und das Dröhnen der Galaxien,

Gib zu, etwas Schlimmeres
kann dem Dichter nicht passieren.
Und dann nichts Besseres
als schnell aufzuwachen.

Wisława Szymborska

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012.



Freitag, 17. März 2017

Trost


Darwin.

Angeblich las er zur Entspannung Romane.
Doch er stellte Ansprüche:
Sie durften nicht traurig enden.
Wenn er auf einen traurigen stieß,
warf er ihn wütend ins Feuer.

Ob’s stimmt oder nicht –
ich glaub es gern.

Sein Geist durchmaß so viele Gebiete und Zeiten,
er sah sich so viele ausgestorbene Gattungen an,
Triumphe der Stärkeren über die Schwächeren,
so viele Überlebensversuche,
früher oder später vergeblich,
daß er sich zumindest von der Fiktion
und ihrer Mikroskala
mit Recht ein Happy-End erhoffte.

Also unbedingt: ein Lichtstrahl hinter den Wolken,
die Geliebten wieder vereint, die Familien versöhnt,
die Zweifel zerstreut, die Treue belohnt,
das Vermögen zurückgewonnen, die Schätze ausgegraben,
die Nachbarn zerknirscht über ihre Sturheit,
der gute Name wiederhergestellt, die Habgier beschämt,
die alten Jungfern an ehrbare Pastoren vergeben,
die Intriganten auf die andere Halbkugel verbannt,
die Dokumentenfälscher von der Treppe gestoßen,
die Mädchenverführer auf dem Weg zum Altar,
die Waisen in Obhut, die Witwen beruhigt,
der Hochmut ganz klein, die Wunden verheilt,
die verlorenen Söhne an den Tisch gebeten,
der bittere Kelch ins Meer geleert,
die Taschentücher naß von Freudentränen,
allgemeines Singen und Musizieren,
und das Hündchen Fido,
schon im ersten Kapitel verschwunden –
möge es wieder durchs Haus laufen
und fröhlich bellen.

 Wisława Szymborska



Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012.



Donnerstag, 16. März 2017

Morgen - ohne uns


Der erwartete Morgen ist kühl und neblig.
Von Westen her
beginnen Regenwolken aufzuziehen.
Die Sicht wird schlecht sein.
Die Straßen glatt.

Allmählich, im Laufe des Tages,
unter dem Einfluß eines Hochs von Norden
sind örtlich Aufheiterungen möglich.
Doch bei starken und wechselhaften Windstößen
kann es Gewitter geben.

In der Nacht
klart es fast im ganzen Land auf,
nur im Südwesten
sind Niederschläge nicht auszuschließen.
Die Temperatur wird merklich fallen,
dafür steigt der Luftdruck.

Der nächste Tag
verspricht sonnig zu werden,
obwohl jene, die leben,
noch einen Regenschirm brauchen.

Wisława Szymborska


Mittwoch, 15. März 2017

Perspektive


Sie gingen aneinander vorbei wie Fremde,
ohne eine Geste, ohne ein Wort,
sie auf dem Weg in den Laden,
er zum Auto.

Vielleicht in Panik
oder zerstreut
oder nicht mehr wissend,
daß sie sich kurze Zeit
für immer geliebt haben.

Übrigens ist nicht garantiert,
daß sie es waren.
Von weitem vielleicht ja,
aus der Nähe aber nicht.

Ich sah sie vom Fenster aus,
und wer von oben schaut,
kann sich leicht irren.

Sie verschwand hinter der Glastür,
er setzte sich ans Steuer
und fuhr schnell davon.
Das heißt, nichts ist geschehen,
selbst wenn.

Und ich, nur einen Moment lang
sicher, was ich sah,
versuche jetzt in einem Gelegenheitsgedicht
euch, den Lesern, einzureden,
das sei traurig gewesen.

Wisława Szymborska

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012.