Er ging in Richtung
Schillerstraße. Es gab nur zwei Städte, die einen so zum Laufen
herausforderten, Paris und Berlin. Das stimmte natürlich auch wieder
nicht. Er war sein ganzes Leben lang überall viel zu Fuß gegangen,
doch hier war es anders. Er fragte sich, ob das durch den Bruch kam,
der durch beide Städte lief, wodurch das Zufußgehen den Charakter
einer Reise, einer Pilgerfahrt bekam. Bei der Seine wurde dieser
Bruch durch Brücken gemildert, und dennoch wußte man immer, daß
man irgendwo anders hinging, daß eine Grenze überschritten wurde,
so daß man, wie so viele Pariser, auf seiner Seite des Flusses
blieb, wenn keine Notwendigkeit bestand, das eigene Territorium zu
verlassen. In Berlin war das anders. Diese Stadt hatte mal einen
Schlaganfall erlitten, und die Folgen waren noch immer sichtbar. Wer
von der einen Seite in die andere ging, durchquerte einen
merkwürdigen Riktus, eine Narbe, die noch lange zu sehen sein würde.
Hier war das trennende Element nicht das Wasser, sondern jene
unvollständige Form der Geschichte, die Politik genannt wird, wenn
die Farbe noch nicht ganz trocken ist. Wer dafür empfänglich war,
konnte den Bruch fast körperlich spüren.
Cees Nooteboom,
Allerseelen, suhrkamp taschenbuch, 1999, Frankfurt am Main