Ein
verlorenes Dorf? Eine verlorene Stadt? Am Rande der Camargue?
Staubig, schlampig, einer jener Provinzorte, in denen Simenon einen
grauenhaften, aber wohldurchdachten Mord stattfinden läßt.
Pharmacie, Alimentation, Tabac, das Mahnmal von 1914-18 mit all den
Namen, und darunter 1940-45, viel weniger Namen, aber noch immer die
gleichen. Im Krieg zu fallen ging früher in Europa vom Vater auf den
Sohn über.
Nein, hier fehlt nichts. Die alte
Jungfer in Schwarz, die beim Roßschlächter hundert Gramm Herz für
ihre Katze holt, der abgeblätterte Putz der Häuser, in denen
unsichtbare Leben verrinnen, die Platanen, die vom Mistral jedes Jahr
um eine unsichtbare Winzigkeit weiter zur Erde gebeugt werden, dort
aber nie ankommen werden, weil vorher die Welt untergegangen ist, und
das zu Recht.
Und mittendrin steht, unerwartet,
einer jener Spiegel, die Menschen errichtet haben, um sich selbst zu
erkennen, ein Theater aus Himmel und Hölle, Gut und Böse, die
Fassade der Kirche von Saint-Gilles. Gute siebenhundert Jahre alt und
noch immer gültig. Ich erinnere mich, daß ich auf sie zuging wie
eine Katze aufs Fressen, fast nichts sehend, um einfach mittendrin
anzufangen, und das war rechts vom Portal, über dem ein Christus
ohne Gesicht das All im Triumph durchpflügt, umgeben von den
Symbolen der vier Evangelisten: dem geflügelten Mann, dem Adler, dem
Ochsen und dem Löwen. Bilderstürmer sind hier am Werk gewesen, doch
mit Hilfe dessen, was man von der romanischen Kunst weiß, kann man
sich die Gesichter und die Attribute dazudenken, und andererseits
macht gerade ihr Fehlen dieses versteinerte Universum so unendlich
geheimnisvoll.
[…]
Cees Nooteboom, Die
Kunst des Reisens, Schirmer / Mosel Verlag, 2004, München